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(c) arbeiterfotografie.deArtikel erschienen in Die Zeit, 29. Juli 2004

Immer noch zu teuer, immer noch zu gefährlich: Eine Antwort auf Gero von Randows Plädoyer für die Atomkraft von Hermann Scheer.

Das Ende des fossilen Energiezeitalters naht, wobei sein ökologisches Limit zeitlich näher liegt als das physische durch erschöpfte Reserven. Die Befürworter der Atomenergie wittern Morgenluft, und selbst manche Kritiker stimmen in den lauter werdenden Ruf nach neuen Kernkraftwerken ein. 442 Atommeiler laufen gegenwärtig weltweit, Gesamtkapazität etwa 300000 Megawatt. Zweieinhalbmal so viel bis 2030 und viermal so viel bis 2050 würden hinzukommen – sagt die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA), der Hort der globalen nuclear community.

Die Pro-Atom-Argumentation besteht aus einer zweifachen Ausblendung: Faktenwidrig werden die wirtschaftlichen Vorteile gepriesen, die Risiken bagatellisiert oder als technisch lösbar deklariert. Gleichzeitig werden die erneuerbaren Energien als unwirtschaftlich denunziert und ihr Potenzial marginalisiert, um die Unverzichtbarkeit der Atomenergie behaupten zu können.

Zu diesem Argumentationsmuster gehört, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu verharmlosen. Auch Gero von Randow schreibt in der ZEIT (Nr. 31/2004), es habe dort nur 45 Tote gegeben und gerade einmal 2000 registrierte Fälle von Schilddrüsenkrebs. Das sind Zahlen interessengebundener Institutionen. Unabhängige Untersuchungen wie die des Münchner Strahleninstituts haben 70000 Todesopfer einschließlich verzweifelter Selbstmorde ermittelt und erwarten Zehntausende weiterer Spätopfer.

Zur Verharmlosung zählt, die Opfer mit denen durch Kohlebergbau und fossile Energieemissionen zu verrechnen. Doch sowohl atomare wie fossile Massentragödien gebieten es, die erneuerbaren Energien zu mobilisieren, als einzigartige Chance zu dauerhafter, emissionsfreier, gefahrloser und perspektivisch kostengünstiger Versorgung.

Die Atomenergienutzung ist das Resultat einer gigantischen politischen Subventions- und Privilegierungsmaschine. Für Forschung und Entwicklung der Atomenergie spendierten die OECD-Regierungen bis 1973 über 150 Milliarden Dollar (nach heutigen Preisen), für erneuerbare Energien dagegen praktisch nichts. Zwischen 1974 und 1992 waren es nochmals 168 Milliarden Dollar, für erneuerbare Energien dagegen nur 22 Milliarden. Die üppige Atomförderung der EU wird dabei gar nicht mitgezählt, und die französischen Zahlen sind bis heute geheim. Zusammen mit den vielfältigen Markteinführungshilfen und den Fördermitteln der Nicht-OECD-Länder, allen voran denen des einstigen Sowjetblocks, liegt die gesamte Staatsförderung bei mindestens einer Billion Dollar – die für die erneuerbaren Energien dagegen lediglich bei 50 Milliarden. Seit 1957 helfen die IAEA und Euratom den Regierungen bei der Konzipierung von Atomprogrammen. Internationale Organisationen für erneuerbare Energien gibt es demgegenüber bis heute nicht.

Mehr wegen massiver Kostensteigerungen als durch wachsende öffentliche Widerstände wurde die Atomenergie seit Mitte der siebziger Jahre weitgehend ausgebremst. Die Ausbaugrenzen sind seitdem noch enger geworden. Die nur noch auf maximal 60 Jahre geschätzten Uranvorkommen beziehen sich auf die Zahl gegenwärtig laufender Anlagen; schon bei verdoppelter Anzahl halbiert sich unweigerlich der Verfügbarkeitszeitraum. Ohne den unverzüglichen Übergang zu Schnellen Brütern, die die Uranvorkommen deutlich strecken könnten, wäre also nicht einmal der von der IAEA errechnete Zuwachs realisierbar!

Doch die Geschichte der Brutreaktoren ist die eines Fiaskos. Der britische Reaktor erzielte bis zu seiner Schließung 1992 eine Arbeitsauslastung von 15 Prozent, ebenso der russische; der französische Superphenix (1200 Megawatt) erreichte 7 Prozent und kostete 10 Milliarden Euro, der sehr viel kleinere japanische Brüter (300 Megawatt) kostete schon 5 Milliarden Euro und hat regelmäßig Betriebsprobleme. Sollte es gelingen, diese Reaktorlinie arbeitsfähig zu machen, dann nur mit unkalkulierbar hohen Zusatzkosten. Ohne Fortführung oder gar Steigerung des öffentlichen Finanzaufwands bleibt der Weg verschlossen. Und die tausendjährige Atommüllfrage bleibt ohnehin ein ungelöstes Problem mit unvorhersehbaren Dauerkosten.

Vier weitere Gründe sprechen gegen die Zukunftsfähigkeit der Atomkraft:

  • Ihr enormer Wasserbedarf für Dampfprozesse und Kühlung kollidiert mit sich ausbreitenden Wassernotständen durch Klimaänderungen und dem Wasserbedarf der wachsenden Weltbevölkerung.
  • Der Wärmeüberschuss der Atomkraftwerke eignet sich wegen der hohen Kosten für die Fernwärmeleitungen von zentralen Kraftwerkblöcken kaum für Kraft-Wärme-Kopplung.
  • Mit der Zuspitzung »asymmetrischer Konflikte« wächst die Gefahr des Atomterrorismus, nicht nur durch Flugkörperattacken auf Reaktoren.
  • Und die für ihre Rentabilität unabdingbare Auslastung kapitalintensiver Atommeiler kann nur gewährleistet werden, wenn Regierungen die Strommärkte wieder entliberalisieren und Alternativen blockieren. Atomwirtschaft bleibt (verdeckte) Staatswirtschaft.

Gleichwohl müsste das alles angesichts der Endlichkeit fossiler Ressourcen in Kauf genommen werden, gäbe es nicht die greifbare Option erneuerbarer Energien, deren jährliches Energieangebot für unseren Planeten 15000-mal so hoch ist wie der Jahresverbrauch atomarer und fossiler Energien. Szenarien über eine Vollversorgungsmöglichkeit schon mit bereits verfügbaren Techniken sind mehrfach errechnet worden: So in den USA 1978 von der Union of Concerned Scientists; 1981 vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse für Europa; und 2002 für Deutschland im Auftrag der Enquetekommission des Bundestages. Keines ist je qualifiziert widerlegt worden, aber alle werden vom konventionellen Expertenbetrieb ignoriert.

Im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes entstand in Deutschland in den letzten zwölf Jahren eine Stromerzeugungskapazität von 16000 Megawatt. 3000 Megawatt Neuanlagen gab es allein 2003. Diese Einführungsrate in den nächsten 50 Jahren fortgesetzt, ergäbe eine Gesamtkapazität von 166000 Megawatt und ein Äquivalent zu konventionellen Kapazitäten von 55000 Megawatt – bei vereinfachter Betrachtung. Es ist jedoch ein weit verbreiteter Fehler, in isolierten Substitutionsschritten zu denken und etwa das Effizienzsteigerungspotenzial außer Acht zu lassen. Gerade bei systemischer Betrachtung haben erneuerbare Energien ungeahnte Vorzüge: Aus langen Energieketten von den Bergwerken bis zum Endverbraucher, mit Energieverlusten bei jedem Konversions- und Transformationsschritt, werden dann kurze. Relativ wenige hoch zentralisierte Kraftanlagen werden durch zahlreiche dezentralisierte abgelöst. Der Infrastrukturbedarf sinkt drastisch.

Dieser Weg wird vor allem durch neue Energiespeichertechniken geöffnet, die vor ihrer Einführung stehen und die die vermeintliche Dauerbarriere unregelmäßiger Wind- und Solarstrahlungsangebote aus dem Weg räumen: Nicht nur durch elektrolytisch erzeugten Wasserstoff, sondern durch elektrostatische Speicher (Superkondensatoren), elektromechanische (Schwungräder, Druckluft), elektrodynamische (supraleitende Magneten) oder thermische mit Hilfe von Metallhydriden. Dann sind energieautarke Siedlungen und Unternehmen keine Utopie mehr, die kontinuierlich allein mit photovoltaischem Strom oder Windkraft versorgt werden. Eine andere Variante sind Hybridsysteme, sich wechselseitig ein- und ausregelnde Komplementkraftanlagen (etwa Windkraft und Biomassegeneratoren). Den Kosten dafür steht der Wegfall der laufenden Brennstoffkosten (außer bei Bioenergie) und der Stromübertragungskosten gegenüber, die das Gros des heutigen Strompreises ausmachen. Damit wird das gesamte Energiesystem, einschließlich der gegenwärtigen Nutzung erneuerbarer Energien, revolutioniert.

Die fossilen und atomaren Kosten steigen unweigerlich, während erneuerbare Energien durch Serienfertigung und technologische Optimierungen laufend billiger werden. Bereits in den letzten zehn Jahren sind die Windkraftkosten um 50 Prozent und die der Photovoltaik um 30 Prozent gesenkt worden. Die Mehrkosten von heute sind Niedrigkosten von morgen.

Erneuerbare Energien sind auch die Antwort auf die nahende Erdöl- und Erdgasverknappung, die vor allem den Kraft- und Heizstoffbedarf betrifft. Mittlerweile ist es offizielle Hausmeinung bei DaimlerChrysler, Volkswagen und Ford, dass biosynthetische Kraftstoffe oder Bioethanol, Biodiesel und Biogas kostengünstiger und schneller einführbar sind als mit Atomstrom produzierter Wasserstoff, für den eine kostspielige neue Infrastruktur entstehen müsste. Das Potenzial reicht aus, um den Kraftstoffbedarf der Welt zu befriedigen, wie auf der Weltbiomasse-Konferenz im Mai in Rom dargelegt wurde. Energieeffizientes solares Bauen kann komplette Häuser mit Heiz- und Kühlenergie versorgen. Schon gibt es in Deutschland 3000 Häuser ohne Fremdenergiebedarf. Der Reichstag in Berlin wird bereits zu 85 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt.

Es ist hohe Zeit, die strukturkonservativen Sichtblenden und den kleinmütigen Technikpessimismus gegenüber erneuerbaren Energien zu überwinden. Sie müssen in Politik, Wissenschaft und Technik endlich genauso ambitioniert erforscht und gefördert werden wie einst die Atomenergie. Die technologisch-wirtschaftliche Optimierung erneuerbarer Energien ist leichter zu realisieren als die der Atomtechnik, und ein unwägbares Risiko gibt es nicht. Die Zukunft des atomar-fossilen Energiezeitalters liegt – besser früher als später – im Technikmuseum.

Der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer ist Träger des Alternativen Nobelpreises und ehrenamtlicher Präsident von EUROSOLAR. Vor seiner Wahl ins Parlament war der SPD-Politiker als Systemanalytiker am Deutschen Kernforschungszentrum in Karlsruhe tätig.
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