Alle zerren an der Uno herum. Dabei müsste sie endlich die militärische Macht bekommen, um weltweit für Ordnung zu sorgen. Wie die Uno ihre Lähmung überwinden kann.
Die Debatte um einen Krieg gegen den Irak ist zum Abzählvers geworden: Es geht um Öl, es geht nicht um Öl, es geht um Öl... Natürlich geht es um Öl, worum denn sonst? Aber lassen wir das.Richten wir den Blick vielmehr auf eine Entwicklung mit verheerenden Folgen, über die nicht debattiert und geschrieben wird. Momentan werden positive Errungenschaften der internationalen und humanitären Politik sukzessive entwertet und zertrümmert. Die Rede ist von den Vereinten Nationen und dem Völkerrecht. Was an dieser Entwicklung so gefährlich ist? Nun, Fehler internationaler Politik rächen sich oft erst nach Jahrzehnten. Schlimmstenfalls rächen sie sich in blutigen Konflikten. Beispiele liefert die Geschichte zuhauf. Und zu fürchten ist, dass sich auch die derzeitigen Fehler bitter rächen werden.
Da ist zuerst die Frage: Wer regelt die Ordnung dieser Welt? Eine solche Macht muss es geben, das ist evident. Und von einer wirklichen Weltordnungsmacht kann man nur sprechen, wenn diese auf einer breiten Basis steht. Das heißt, sie muss völkerrechtlich und prinzipiell legitimiert sein. Dies ist die Grundidee der Uno, die visionäre Grundidee der Vereinten Nationen.
Das Völkerrecht wird zertrümmert
Was könnte die Rolle dieser Weltstaatengemeinschaft sein? Sie würde das internationale Gewaltmonopol sicherstellen, um Krieg als Mittel zwischenstaatlicher Konfliktaustragung gegenstandslos zu machen. Und sie würde dies tun als gemeinsame Einrichtung aller, in der Funktion eines Weltstaates. Natürlich ist dieser Weltstaat nur ein äußerer Rahmen, der die nationale Souveränität einzelner Staaten nicht aufhebt, sondern nur partiell durch gemeinsam gefasste Beschlüsse und Initiativen.
Die Uno kommt nicht von sich aus in diese Situation. Wenn dieses Gewaltmonopol nicht nur auf dem Papier stehen soll, muss die Uno instrumentell dafür ausgestattet werden. Sie würde dann eine internationale militär-polizeiliche Funktion wahrnehmen. Einzelne Staaten müssen dazu Streitkräfte bereitstellen.
Nur zur Klarstellung: Es würde sich um asignierte Truppen handeln, nicht um ständige. Diese stünden unter einem gemeinsamen Kommando der Uno auf Basis eines entsprechenden Beschlusses, um das Gewaltmonopol durchzusetzen. Übrigens: Dies alles ist in der UN-Charta angelegt.
Das hat Konsequenzen. Das Prinzip der Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder müsste fallen; dieses Prinzip wirkt lähmend. An seine Stelle würden Mehrheitsentscheidungen treten, ob mit Dreiviertel-Mehrheit gefasst oder nur mit 51 Prozent, das sei dahingestellt. Selbstverständlich ist auch, dass jede dieser Entscheidungen umstritten sein wird.
Ist das Träumerei? Oder naiv? Das ist es nicht, es ist umsichtiger Realismus. Man muss diesen Schritt politisch nur wollen. Auch die Nato ist nicht von sich aus in ihre heutige Rolle gekommen. Die Rolle war politisch gewollt. Und was den Realismus angeht: Wäre es denn vor dem Zweiten Weltkrieg denkbar gewesen, dieses Verteidigungsbündnis mit integrierten Streitkräften? Niemals! Es ist entstanden aus der Erfahrung des Krieges und des Ost-West-Konflikts. Und auch bei der Nato handelt es sich um asignierte Truppen unter einem Oberbefehl. Diesem werden im Ernstfall nationale Truppen unterstellt.
Die hier skizzierte Idee hat vor allem eine Patenschaft: Den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der mitten im 2. Weltkrieg die Uno aus der Taufe hob. Die Doktrin von George W. Bush ist das genaue Gegenteil davon. Der US-Präsident reklamiert in einer Art Selbstermächtigung das weltweite Gewaltmonopol für sein Land. Seine Doktrin sagt: Wir führen einen Präventivschlag in jedem Fall, wo wir uns bedroht fühlen. Dies ist ein Freibrief für militärische Einsätze des US-Armee an jedem Ort und zu jeder Zeit.
Glaubt denn ernsthaft jemand, eine Weltmacht würde Weltordnungspolitik machen ohne dabei ihre eigenen Interessen zu betreiben? Diese Vorstellung ist naiv! Es ist dies auch keine bösartige Unterstellung. Nein, die US-Regierung redet selbst ganz offen von ihren Interessen, und sie stellt sie oft genug über einen Weltkonsens, siehe Klimapolitik. Es gibt überhaupt keine Nation, die integer genug wäre, die Rolle der Weltordnungsmacht zu übernehmen. Früher oder später würde sie daran scheitern, woran selbst die Vereinten Nationen oft genug überfordert sein dürften.
So wie die Nato ihre historische Stunde hatte, so hatte auch die Uno ihre historische Stunde: 1990, mit dem Zerfall des Warschauer Pakts. Nun war die Zweiteilung der Welt zu Ende. Durch die Konfrontation des Kalten Krieges war es unmöglich, die Uno in ihre friedensschaffende Rolle zu setzen. Heute aber wäre die Gelegenheit, die Stunde schlagen zu lassen und den formalen Rahmen der Vereinten Nationen mit Macht zu füllen.
Jugoslawien wäre der erste klassische UN-Aktionsfall nach dem Ost-West-Konflikt gewesen. Diese Chance wurde vertan, weil die Nato diesen Fall unbedingt an sich reißen wollte. Es handelte sich jedoch um keinen Angriff auf einen Mitgliedstaat, also fehlte ein entscheidendes Kriterium für den Bündnisfall. Trotzdem ist die Bundesregierung auf den Nato- Zug gesprungen. Das Argument der Regierungen war, die Uno sei instrumentell nicht fähig, der blutigen Zuspitzung in Jugoslawien Einhalt zu gebieten.
Diese Prämisse war aktuell richtig, aber prinzipiell falsch. Selbst SPD und Grüne haben eine solche Uno-Fähigkeit in den 90er Jahren nicht gefordert, geknebelt durch ihre alten Parteitagsbeschlüsse: keine deutsche Beteiligung an Einsätzen im Ausland, es sei denn mit der Nato. Ich habe das damals schon für falsch und kurzsichtig gehalten. UN-Generalsekretär Boutros Ghali hat 1992 nie behauptet, er könne den Balkan befrieden; aber er hat gesagt: Gebt uns die Mittel dazu. Die Unterstützung wurde ihm jedoch verweigert.
Dabei hätte der Jugoslawien-Einsatz mit einem von der Uno bestellten Oberkommandierenden eine völlig andere Legitimationsgrundlage bekommen – mit positivem Zukunftssignal. Denn man muss sich nichts vormachen: Die Entwicklung der Uno zu einer Weltordnungsmacht wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Doch irgendwann muss der erste Schritt zum praktizierten Gewaltmonopol der Uno getan werden.
Was aber ist derzeit der Fall? Nach neuer amerikanischer Doktrin gibt es die Option, sogar Atomwaffen zur Kriegsführung einzusetzen. Bislang und in der Zeit des Kalten Krieges war die einzige Begründung für den Besitz von Atomwaffen, sie dienten zur Abschreckung vor einem Krieg. Vielleicht darf noch einmal an den Atomwaffensperrvertrag erinnert werden. Er teilte die Welt in Habenichtse, die sich mit ihrer Unterschrift zu atomarer Abstinenz verpflichten; die Besitzer von Atomwaffen verpflichten sich im Gegenzug zur atomaren Abrüstung. Von Letzterem ist überhaupt nicht mehr die Rede! Dies aber bedeutet praktisch den Anspruch auf ein zweiklassiges Völkerrecht; auf Länder mit und auf Länder ohne Atombomben. Und das soll auf Dauer durchzuhalten sein? Im Gegenteil. Es wird immer mehr Länder (zumal diktatorische) anstiften, sich in den Besitz von Atomwaffen zu bringen.
Dieser gravierende Rückschritt internationaler Politik ist grotesk – und gefährlich.
Ebenso gefährlich ist die Ignoranz gegenüber dem humanitären Kriegsvölkerrecht. Die Idee von der Zivilisierung des Krieges ist beinahe 100 Jahre alt. Sie wurzelt in der Haager Landkriegsordnung von 1907, eine Forderung des Internationalen Roten Kreuzes. Es kam zur völkerrechtlich verbindlichen Unterscheidung zwischen Kombattanten, also uniformierten Soldaten und Zivilisten. Die Zivilbevölkerung sollte so weit wie möglich vom Krieg verschont bleiben. Auch Kriegsgefangenen verbleiben minimale Rechte, die der Versorgung und der Freilassung nach Kriegsende.
Dieses Recht wurde mit jeder Erfahrung in der Genfer Konvention weiterentwickelt. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die Ächtung von Giftgas und anderer chemischer Waffen. Schon diese ersten Schritte haben Millionen von Menschen das Leben gerettet. Mit dem Zweiten Weltkrieg kam die Erfahrung des Bombenkrieges. Bombenkrieg ist meistens Krieg gegen die Zivilbevölkerung. So kam es 1949 zu nächsten Erweiterung der Genfer Konvention: Verbot der Bombardierung ziviler Ziele. Damit war die eindeutige Distanzierung von dieser Kriegsform ausgesprochen. Daraus folgert logisch, dass man sie in Kriegspläne gar nicht mehr einbeziehen dürfte.
Und noch etwa kam hinzu: Hiroshima und Nagasaki. Atomare Schläge sind nie ohne massive Folgen für Zivilisten, sie stehen von vornherein in eklatantem Gegensatz zur Genfer Konvention. Nur ihre trickreiche Umwidmung in Mittel zur Abschreckung legitimierten den Besitz von Atomwaffen. Was in den 70er Jahren folgte, war die Entlaubung des vietnamesischen Urwaldes mit „Agent Orange“ durch die US-Truppen. Daraus entwickelte sich das Verbot willkürlicher Zerstörung von Umwelt mit indirekter Auswirkung auf elementare Lebensgrundlagen von Menschen. Soweit das Gesamtwerk des Völkerrechts, das nachzulesen jedem offen steht.
Die Realität ist um so fataler. Sie zeigt das Gegenteil des „ius in bello“, des eingeschränkten Rechts im Krieg. Denn in wachsendem Maß sind Zivilisten die Opfer kriegerischer Aktionen und nicht mehr jene, die für den Krieg ausgebildet und ausgerüstet sind: Soldaten; die Statistiken dazu sind eindeutig. Und längst hat der Bombenkrieg wieder Einzug gehalten ins Kriegsführungsdenken – ist sogar zu einer Priorität geworden. Das liegt am Trauma der amerikanischen Politik. Vietnam, so denken viele im Pentagon, musste nur aufgegeben werden durch den Druck der Bevölkerung im eigenen Lande. Ausgelöst worden war dieser Druck durch die Vielzahl toter GI’s. Eigene Opfer sollten – so die Logik – künftig vermieden werden. Am Besten geht das mit Bombenkriegen - siehe Jugoslawien, siehe Afghanistan, siehe Irak. (Damit Klarheit herrscht: Ein Schlag gegen die Al-Qaida-Söldner von Osama Bin Laden war völlig richtig; nicht richtig war die Art des Vorgehens, das wiederum tausende Unbeteiligter mit ihrem Leben bezahlen mussten.)
Was tun mit Saddam?
Das Eis ist gebrochen. Die völkerrechtliche Entwicklung droht hinter den Stand von 1907 zurückzufallen. In Jugoslawien wurden durch die Nato gezielt Brücken bombardiert, Elektrizitätswerke, Futtermittelfabriken, Wasserwerke, Ölraffinerien. Und dies hunderte von Kilometern vom Kosovo entfernt, mit katastrophalen Auswirkungen für Umwelt und Menschen. Es war der Versuch, mit dem Schlag gegen die Zivilbevölkerung Milosevic zur Aufgabe zu zwingen. Dahinter steckte eine seltsame Logik. Sie verlangte vom Diktator genau jene Moral und jenes Mitgefühl, das man selbst nicht aufbrachte.
Warum ist es so schwierig, den jeweiligen russischen Präsidenten für die Kriegsverbrechen in Tschetschenien anzuklagen? Weil vielen die moralische Kraft dazu fehlt, die aus eigener Moraltreue erwächst. Weil Putin nur mit dem Finger auf die Landkarte zeigen müsste: Hier habt ihr gesündigt, und dort... Wer auf diese Widersprüche hinwies während des Krieges in Jugoslawien, der bekam erstaunlich oft zu hören (auch von Grünen und Sozialdemokraten): Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. So einfach ist das? Nein, es ist vielmehr so: Wenn Völkerrecht permanent ungeahndet gebrochen wird, wird es hinfällig.
Spätestens jetzt kommt die Frage, ob man denn gegen Halunken wie Saddam Hussein nichts unternehmen solle? Oh doch. Natürlich ist es wünschenswert, der Diktator wäre besser noch heute weg als morgen. Wer würde ihn vermissen? Und trotzdem kann der Krieg immer nur die ultima ratio sein, das letzte aller Mittel. Was aber, wenn von der prima ratio nicht-kriegerischer Mittel immer weniger ernsthaft Gebrauch gemacht würde?
Immer wieder fällt das Argument, ein Embargo gegen Saddam würde nichts fruchten. Ein fadenscheiniges Argument. Es soll nicht möglich gewesen sein in den vergangenen zwölf Jahren, die Ölexporte des Irak zu unterbinden? Damit wäre Saddams Einkommensquelle rasch versiegt und der Schurke (der ja lange ein Freund war und mit – auch chemischen – Waffen versorgt wurde) alsbald handlungsunfähig. In Wahrheit beziehen die USA bis zum heutigen Tag zehn Prozent ihres Ölbedarfs aus dem Irak. Sie nähren mit ihren Dollars den Diktator mehr als die Bevölkerung. Als Ausgleich für diesem Großmut wurden die Lieferungen von Medikamenten in den Irak gestoppt. Die Folge waren hunderttausende gestorbener und leidender Kinder. Ist das moralisch, doppelzüngig, ultima ratio?
Wäre es nicht besser gewesen, Nahrungsmittel und Medikamente zu liefern, aber kein Öl mehr zu kaufen und keine Geräte mehr zu verkaufen? Friedenspolitik braucht beharrliche Geduld. Ohne eine solche wäre es im kalten Ost-West-Konflikt zur Selbstvernichtung alles Beteiligten gekommen. Am Ende zerfiel das östliche Weltreich ohne einen Schuss von innen oder außen. Weil die Legitimation bei der eigenen Bevölkerung am Ende war.
Was aber, und das ist die nächste Frage, wenn die Uno unter dem politischen Druck der Bush-Regierung und in realpolitischer Rücksicht auf diese „Ja“ zum Krieg sagt? Kann eine deutsche Regierung oder irgendeine andere dann sagen: Was immer die UNO beschließt, wir machen nicht mit? Ist das eine Missachtung dieser Weltinstitution? Der Regierungschef müsste dann eine Grundsatzrede halten mit dem Inhalt: Auch der Uno-Sicherheitsrat hat nicht das Recht, die UN-Charta zu beugen. So wenig wie eine Regierung die eigene Verfassung beugen darf; es geht um die „Herrschaft des Rechts“, wie es feierlich auch in der Präambel des Nato-Status steht, das ohne die Genfer Konvention blutleer wird. Und der Regierungschef könnte sagen: Die Nato soll sich von ihrer seit 1991 offiziellen Position verabschieden, wonach ihre Aufgabe auch die einer weltweiten militärischen Sicherung der Ressourcen ist; und: lasst uns endlich eine neue Energiepolitik konsequent einleiten, die die Welt unabhängig vom Öl macht.
Und noch so eine Frage: Wäre es nicht wünschenswert, Saddam durch einen Krieg zu entmachten und damit eine Demokratisierung der gesamten arabischen Halbinsel einzuleiten? Nun, Demokratie ist immer eine gute Idee, vielleicht lässt sie sich auch von einer anderen Seite angehen. In den feudalen Ländern Kuweit, Bahrein und Saudi-Arabien stehen jetzt schon reichlich britische und amerikanische Truppen. Wie wäre es, wenn wir erst einmal diese Länder demokratisieren, um die Welle der Demokratie dann in den Irak schwappen zu lassen?
Manchmal kommt mir in diesen Tagen John D. Rockefeller in den Sinn. Er ist mit seinen Ölgeschäften zum reichsten Menschen seiner Zeit geworden. Dennoch hat er diesen Rohstoff einmal „die Tränen des Teufels“ genannt. An diese Metapher mag jeder denken, wenn demnächst Bomben auf Bagdad fallen sollten. Das Völkerrecht wird die Beteiligten ohnehin wenig interessieren. Hoffnungsvoll stimmt das nicht.