Im "alten Europa" wird die Irakfrage als Kampf der USA um Hegemonie aufgefasst - die Antwort darauf kann nur eine Neudefinition der transatlantischen Beziehungen sein.
In dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Washington und London einerseits und Berlin und Paris andererseits geht es nur noch vordergründig um den Irak. Es ist unvorstellbar, dass die Protagonisten eines Krieges selbst glauben, dass von dem zerschundenen, zwangsweise teils abgerüsteten, rundum überwachten und bündnislosen Regime Saddams eine akute Bedrohung des Weltfriedens ausgehen könnte, die einen Aufschub einer militärischen Okkupation nicht mehr erlaube.Tatsächlich ist die Irakfrage ein innerwestlicher Symbolkonflikt um unterschiedliche Vorstellungen zur Struktur der internationalen Ordnung sowie zu Zielen und Methoden in der internationalen Politik geworden: Es ist vor allem ein Konflikt um das künftige Verhältnis zwischen der EU beziehungsweise den europäischen Nato-Mitgliedern und den USA. Es handelt sich keineswegs nur um eine singuläre Differenz in einem ansonsten intakten Verhältnis zu den USA. Differenzen in elementaren politischen Fragen häufen sich seit Jahren: Der Konflikt um die Weltklimapolitik und die verschiedenen globalen Energieoptionen etwa wurde in Johannesburg ausgetragen; Konflikte um den Internationalen Strafgerichtshof, um die Ächtung von Landminen, ein Verbots- und Kontrollabkommen biologischer Waffen, ein Verifikationsabkommen über chemische Waffen oder ein weltweites Verbot von Atombombentests, um einen weltweiten Sozialpakt und anderes mehr - in all diesen Fragen gibt es ein amerikanisches Njet, wie man es einst von der ruhmreichen Sowjetunion kannte.
Die Differenzen zeigen, wie sehr sich die politischen Wertvorstellungen auseinander entwickelt haben, soweit diese über das pauschale Grundbekenntnis zu politischer Demokratie und Marktwirtschaft hinausgehen. Die Frage kann nicht länger verdrängt werden, was aus der viel beschworenen westlichen Wertegemeinschaft geworden ist, die sich unter anderem in Form der Nato institutionalisiert hat. Sie verstand sich jahrzehntelang wie eine politische Familie, in der die amerikanische Regierung die Rolle des unbestrittenen Patriarchen spielte, dem in wichtigen Punkten meist das erste und in strittigen Fragen stets das letzte Wort zustand. In globalen Institutionen wurde in der Regel gemeinsam aufgetreten - ob in der UN, in Gouverneursräten internationaler Organisationen oder bei internationalen Vertragsverhandlungen. Nur Frankreich wurde traditionell zugestanden, gelegentlich fremdzugehen - solange daraus keine richtige Affäre wurde.
Diese Familie ist in einem Auflösungsprozess. Bei den Weltklimakonferenzen emanzipierten sich die Familienmitglieder von den USA, die das akzeptieren mussten. Beim Irakkonflikt ist die Bush-Regierung mit ihrer globalen Sicherheits- und Durchsetzungsstrategie aber offensichtlich nicht bereit, dies hinzunehmen. Nicht einmal die familiären Umgangsformen werden noch gepflegt. Vor allem die Position der deutschen Regierung wird in Washington als die eines undankbaren Ziehkinds wahrgenommen, das nunmehr Verrat übe. Die Familienpsychologie lehrt, dass Patriarchen gegenüber unbotmäßigen Angehörigen besonders heftig werden, weil man diesen weniger Eigenständigkeit zugesteht als Außenstehenden. Dies erklärt die sprachlichen Entgleisungen aus Washington gegenüber der aktiven deutschen Kriegsverweigerung. Darum, was Indien oder Japan zum Irakkonflikt denken und tun, schert sich in Washington niemand.
Wenn sich die Wertvorstellungen und Interessen auseinander gelebt haben, läuft dies normalerweise irgendwann auf eine Scheidung zu. Wenn es aber gute Gründe gibt, diese auszuschließen, ist es notwendig, einen neuen Modus Vivendi des wechselseitigen Umgangs zu finden, der sich auch in einer Neuregelung der Familienverhältnisse niederschlagen muss. Nur dann wird es möglich sein, sich dauernde wechselseitige Zumutungen und Missverständnisse zu ersparen. "Wer das Niveau heben will, muss die Ansprüche senken", lautet ein dazu passender Aphorismus von Stanislaw Lec.
Im Eherecht gibt es die Unterscheidung zwischen Gütergemeinschaft, Zugewinngemeinschaft und Gütertrennung. In der Gütergemeinschaft wird alles miteinander geteilt. Das entsprach ursprünglich dem Selbstverständnis vor allem der Beziehungen Deutschlands zu den USA in deutschen sicherheits- und außenpolitischen Fragen. In einer laufenden Zugewinngemeinschaft werden nur diejenigen Dinge geteilt, die in einer Beziehung gemeinsam zusätzlich erworben werden. Das entspricht ungefähr den bisherigen wirtschaftlichen Beziehungen, etwa bei der Formulierung und Durchsetzung der weltweiten Rohstoffinteressen - nachzulesen in der offiziellen Nato-Strategie. Seit 1991 sieht sie die Aufgabe des Bündnisses darin, gemeinsam den Zugang zu Ressourcen zu sichern. Hingegen liegen einer Gütertrennung unterschiedliche Interessen zugrunde, die auch unabhängig voneinander wahrgenommen werden. Man macht sich keine Gemeinsamkeiten mehr vor, wo es keine gibt. Es gibt keine Vermischung mehr zwischen emotionalen Beziehungen und Interessenlagen. Das hilft, auf rationalem Wege Beziehungsspannungen zu vermeiden.
Um eine solche politische und wirtschaftliche Gütertrennung wird es in Zukunft im Verhältnis Europas zu den USA gehen müssen. Das wird unter anderem bedeuten, die Frage von EU-Erweiterungen nicht weiter mit der einer Nato-Mitgliedschaft - oder umgekehrt - zu verkoppeln; eine EU-Sicherheitspolitik samt dem dafür notwendigen Unterbau einer Streitkräfteintegration voranzutreiben, und zwar als künftiges Substitut der Nato-Streitkräfte-Integration und nicht als deren Ergänzung. Oder die Eindämmung gewaltsamer Konflikte innerhalb Europas durch Europäer selbst - und die von Konflikten andernorts durch eine von Europa aktiv betriebene Ausstattung der UN mit den dafür notwendigen Kapazitäten. So, wie es die aktuelle französisch-russisch-deutsche Initiative vorzeichnet. Die Sogwirkung auf diejenigen europäischen Staaten, die noch an der Idylle einer statischen Werte- und Interessengemeinschaft mit den USA festhalten, wird früher oder später eintreten. Die Selbstbestimmung der EU erfordert eine multipolare Weltordnung.