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Artikel erschienen in taz, die Tageszeitung, 27. Februar 2001

Medien und Politik fördern autoritäres Denken. Es zählt die Hierarchie, der Abgeordnete wird bloßer Befehlsempfänger. Der Bundestag wird auf eine Behörde reduziert.

„Schäuble rückt nicht auf“, so überschrieb die „Frankfurter Rundschau“ jüngst ihre Meldung, dass der CDU-Politiker nicht, wie gemunkelt worden war, in die engere Fraktionsführung einbezogen werde. Das klang so, als wäre dem einstigen Fraktionsvorsitzenden eine besondere Auszeichnung versagt worden - von seinem spundhaften Nachfolger Merz. „Thönnes rückt auf“: Auch die Süddeutsche Zeitung teilte als vollendete Tatsache mit, dass der SPD-Bundestagsabgeordnete von seinem Fraktionsvorstand für das Amt eines stellvertretenden Vorsitzenden vorgeschlagen worden war. Dass ihn die Fraktion erst noch wählen musste und sich dabei womöglich auch Gegenkandidaten gemeldet hätten, wurde gar nicht erst in Betracht gezogen. Und: „Claudia Roth wird Vorsitzende der Grünen“, stand in den Zeitungen, als sie vom Parteirat vorgeschlagen worden war. Als hätte nicht erst der Parteitag die Entscheidung über diese wichtige Personalie zu fällen.

Keiner der Genannten kann etwas für diese Berichterstattung, die - obwohl es um parlamentarische Funktionen und demokratische Wahlvorgänge geht – die Sprache hierarchischer Ordnung benutzt. Sie verrät einen Verlust an demokratischer Kultur, den diese nahezu unbemerkt erfährt. Mit einer Darstellung, die nur noch die jeweils aktuellen Spitzenpolitiker im Blick hat, werden Missverständnisse über Prinzipien der parlamentarischen Demokratie und eine bedenklich Geringschätzung demokratischer Entscheidungskompetenzen gepflegt. Die pars pro toto zitierten Medienberichte spiegeln dabei nur wieder, was längst auch schon in den Parlamenten und Parteien selbst zum überwiegenden Denk- und Verhaltensmuster geworden ist. Damit verstärken sie, vermutlich unbewusst, öffentliche Einstellungen zu den Organen und Institutionen der Demokratie, die auf die Tradition antidemokratischen Denkens zurückgehen und uns in diese zurückwerfen.

„Ein Mensch, eine Stimme“ – dieser zentrale Grundsatz verlangt die unbedingte Gleichheit aller im demokratischen Entscheidungsverfahren. Dementsprechend gehört zur repräsentativen Demokratie auch die prinzipielle Gleichheit aller Abgeordneten, verankert im Art. 38 des Grundgesetzes, wonach jeder parlamentarische Mandatsträger letztlich nur sich selbst und seinem Gewissen verantwortlich sei. Politologen, Oppositionelle und Systemkritiker haben immer wieder bemängelt, dass die parlamentarische Praxis von dieser Idealdefinition ebenso abweicht wie die Wirklichkeit des organisierten Parteienbetriebs von den Normen der Parteiendemokratie.

Stichworte sind unter anderem: Der berüchtigte Fraktionszwang. Die faktische Beschränkung der Redefreiheit und der Mitgestaltungsmöglichkeit der Abgeordneten durch die den Fraktionsgremien vorbehaltene Aufstellung der Rednerlisten und Ausschussmitgliedschaften. Der gegen abweichende Auffassungen gerichtete Konformitätsdruck durch Führungsgremien wie Kollegen. Das Gefolgschaftsverlangen von Parteiführungen, um das einheitliche Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit nicht zu gefährden und "keinen Schaden" oder "nicht noch mehr Schaden" zu stiften.

Dies alles ist ambivalent, denn ohne delegierte Zuständigkeiten kommen weder Parteien noch Parlamentsfraktionen aus. Wo immer etwas kollektiv organisiert wird, was für eine politische Willensbildung unerlässlich ist, beschneidet das die Spielräume von Abgeordneten oder Parteitagsdelegierten. Dies war und ist normale Härte. Stets hängt es von der Courage der Akteure ab, ob und wie sehr sie sich davon steuern oder beschränken lassen. Aber ab wann gehen Führungs- und Fraktionseffizienz, Fraktionszwang und "corporate identity"-Marketing von Parteien in der Mediengesellschaft an die Substanz des demokratischen Parlamentarismus?

Mir scheint, der Rubikon zur Entdemokratisierung ist überschritten, wenn die Normen der Demokratie aus dem Bewusstsein verschwinden. Und wie viel schon verschwunden ist, das zeigt sich an der neuen Sprache der Politik, in der die Herabwürdigung von demokratischen Grundfunktionen schon absolut üblich geworden ist. Diese Sprache spiegelt die normierende Kraft kaum noch hinterfragter, praktischer Zustände wieder: Parlamentsfraktionen, zunehmend organisiert wie ein hierarchischer Behördenapparat oder eine Unternehmensorganisation, in denen die zugeteilten Funktionen zu formalen Aufstiegsstufen werden: vom „einfachen“ Abgeordneten dient man sich hoch zum stellvertretenden Sprecher und zum Sprecher einer Arbeitsgruppe, zu Fraktionsvorstandsmitgliedern unterschiedlichen Rangs, zu Parlamentarischen Staatssekretären und Ministern – wie vom Inspektor zum Oberinspektor, Referats- und Abteilungsleiter. Analog dazu nehmen Parteitage den Charakter von Aktionärsversammlungen an, und deren Vorstände degenerieren zum Aufsichtsrat für die eigentlichen Vorsitzenden.

Entstanden ist so ein postmodernes Systemverständnis, nach dem Personen von „oben“ ausgewählt werden, befördert nach Dienstgraden und medialer Promotion, statt der demokratischen Wahl von „unten“. Niedergeschlagen hat sich die Schichtenbildung unter Parlamentariern in der Zusatzbesoldung einer wachsenden Zahl von Funktionsträgern in den Parlamentsfraktionen. Zwar hat dies das Bundesverfassungsgericht jüngst – mit der Ausnahme der engeren Fraktionsführung – für verfassungswidrig erklärt. Doch die Parlamente, vom Bundestag bis zu den Landtagen, ignorieren oder umgehen kaltschnäuzig dieses Urteil. Die Mehrheit der davon nicht begünstigten Abgeordneten nimmt das hin, vermutlich nicht zuletzt, weil sie auf ebendiese Beförderung schielen. Nicht einmal die doppelte Bezahlung von Ministern und Staatssekretären, wenn sie gleichzeitig Parlamentsmitglied sind, wurde von einer Abgeordnetenmehrheit in den Parlamenten bisher aufgehoben – obwohl sie dafür laufend öffentliche Watschen einstecken muss.

Und bis in die Medien hinein stoßen einstige Minister auf Verständnis, wenn sie - wiewohl im Status des Vollzeit-Parlamentariers - sich ohne rot zu werden darüber beklagen, sie hätten nun „nichts mehr zu tun“. Nach gewonnenen Wahlen ist die häufigste Frage, die sich Abgeordneten untereinander stellen oder die Journalisten an sie richten: Und was wollen Sie nun „werden“? Aber kaum einer antwortet mit Verweis auf seine originäre Rolle als Mandatsträger mit einem selbstbewussten „Ich bin schon.“ Oder: Wenn ich dann und wann eine abweichende Auffassung vertrete als die bezogene Fraktionsmeinung, dann fragen mich selbst erfahrene und selbst linksliberale Parlamentsreporter teilnahmsvoll, ungläubig, was denn mein „Chef“ dazu sage – gemeint ist wahlweise der Bundeskanzler oder der Fraktionsvorsitzende.

Kaum jemand scheint noch zu registrieren, wie antiparlamentarisch es ist, wenn nach der Einigung zweier Minister oder einer sechsköpfigen Koalitionsrunde quasi offiziell verlautbart wird, was in einem Gesetz stehen werde – sogar noch ehe die Mehrheitsfraktionen darüber beraten haben. Im Gegenteil: Als der SPD-Fraktionsvorsitzende Struck einmal verlautbarte, kein Gesetzentwurf eines Kabinetts habe bisher das Parlament im gleichen Zustand verabschiedet wie eingereicht worden war, wurde das als unerhörte politische Unbotmäßigkeit gegenüber der Regierung kommentiert.

Ein Parlament, immerhin das höchste Verfassungsorgan der Demokratie, verwest ohne eigenständig denkende und selbstbewusste Mitglieder – und in dieser Weise unabhängig bleibt selten, wer sein Mandat lediglich als Plattform einer Amtskarriere versteht. Ebenso verdorrt die kritische Öffentlichkeit, wenn sie sich diese Kategorien aneignet – und wenn Medien jedes Wehwehchen im Gerangel um Spitzenpositionen für wichtiger nehmen als Konzeptionskämpfe zu happigsten gesellschaftspolitischen Konflikten. Für exklusive Runden, zu denen Journalisten von Ministern und Parteiführern geladen werden, hört man neuerdings immer öfter den Begriff: "Briefing“. Der Kern des englischen Wortes kommt von "kurz", wie "Verkürzung". In militärischen Organisationen und Konzernen bedeutet es eine Unterweisung, wie ein Problem zu sehen und zu gewichten sei und was nun zu geschehen habe.

Die Wiederbelebung demokratischer Kultur erfordert ein Ab- und Wegrücken von der schleichenden Transformation zu neo-autoritären Strukturen. Dies war die wichtigste kulturelle Errungenschaft der berüchtigten anti-autoritären 68er. An ihrer Entsorgung wird nicht zufällig gerade jetzt gearbeitet.

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