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Artikel erschienen in taz, die Tageszeitung, 13. Juli 2001

Die Parteien werden sich immer ähnlicher, doch die Wähler wollen Unterschiede. Und wenn Spitzenkandidaten die Inhalte verdrängen, verliert Politik ihre Legitimation. "Wer sagt, er sei nach allen Seiten offen, ist nicht ganz dicht" - so bewertete Johannes Rau in den 80er Jahren die Bemühungen der FDP, sich in Nordrhein-Westfalen gleichzeitig an SPD und CDU heranzuschmeißen. Was seinerzeit beißenden Spott hervorrief, gilt heute unbekümmert als Selbstverständlichkeit: Offerten und Spekulationen für Koalitionen, selbst wenn dafür auch die geringste Basis fehlt.

Der originäre Sinn von Koalitionen ist, dass die, die sich verbinden wollen, mehr gemeinsame Gestaltungsvorstellungen haben als mit anderen. So die sozialliberale Koalition 1969, nachdem sich die FDP des "Freiburger Programms" von ihrem national- und wirtschaftsliberalen Kurs abgewandt hatte. So 1982, als der "Vorrat an Gemeinsamkeiten" zwischen SPD und FDP erschöpft war und sich FDP und Union auf neoliberale Positionen eingestellt hatten. Auch als 1998 die rot/grüne Koalition geschlossen wurde, wäre auf Grund zahlreicher gemeinsamer Positionen alles andere eine Beugung der jeweiligen in den Wahlprogrammen beider verlautbarten Grundlinien gewesen - vom Atomausstieg bis zur Ökosteuer, von der Förderung Erneuerbarer Energien bis zur Steuergerechtigkeit.

Parteien haben in einer Demokratie dann einen bleibenden und unverwechselbaren Stellenwert, wenn sie - jede für sich - die unterschiedlichen Interessen und Werte in der Gesellschaft wiederspiegeln, sie bündeln und ihnen eine programmatische Gestalt geben. Daraus entstehen die Motive, darin mitzuwirken und sie zu wählen. Wenn ihr politisches Gesicht austauschbar wird, verlieren sie unweigerlich ihre Funktion und damit ihre Anhängerschaft. Dass diese Funktion politischer Parteien als vorgestrig gilt und ins Lächerliche gezogen wird, zeigt sich daran, mit welcher Beliebigkeit konzeptleere Gedankenspiele um Koalitionen um sich greifen und wie sehr Parteien zu lästig erscheinenden Anhängseln, zu Wahlvereinen für Spitzenpolitiker, mutieren. Ein aktuelles Beispiel ist die harsche Kritik in den Medien an dem außenpolitischen Positionspapier der Grünen, das sich gegen die Selbstmandatierung bei internationalen Kampfeinsätzen verwendet (was sogar bisherigen Regierungs- und Parlamentsbeschlüssen entspricht, aber als unbotmäßiger Eingriff in die Handlungsfreiheit des Außenministers vermerkt wird. Die Virtualisierung allen Geschehens - definierbar als Abkoppelung des Scheins von der ideellen und physischen Realität - macht auch vor der Politik nicht halt: die meisten Arithmetiker neuer Koalitionen - politische Akteure oder Kommentatoren - scheren sich nicht mehr darum, ob es dafür tragfähige Gründe gibt. Dies entspricht zwar dem Trend zur Marginalisierung von Parteiprogrammen, der bei den Parteien selbst erkennbar ist. Aber dennoch haben die Parteien in den Augen der Wähler immer noch verschiedene Rollen, die sie - ob sie wollen oder nicht - ausüben müssen. Diese entsprechen den unterschiedlichen Wertorientierungen in der Gesellschaft, aus den Erwartungen in die Parteien projiziert werden. Wenn Parteien beliebig werden: das Gros der Wähler ist nicht so. Deshalb sind auch der Beliebigkeit von Koalitionsbildungen Grenzen gesetzt.

Dennoch gilt manchen auf der Bundesebene eine rot/gelbe Koalition als erstrebenswerte Option, obwohl niemand die Frage beantworten kann, wie das angesichts der Rolle der FDP als neoliberaler Luftikus gut für die SPD sein könnte.

In Berlin wird vielfach eine Ampelkoalition als wünschenswert betrachtet, obwohl die FDP dort ein Nullum ist und ihr außer dem blindwütigen Dogma der Privatisierung aller öffentlichen Funktionen nichts einfällt. Oder Sprecher der baden-württembergischen Grünen liebäugelten im Landtagswahlkampf mit der Möglichkeit von "schwarz/grün" - ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die dortige CDU massiv gegen Ökosteuer und Atomausstieg zu Felde zog. Im rot/grünen Nordrhein-Westfalen, wo es immer mal wieder wegen der unterschiedlichen Positionen zur Kohle knirscht, wird dagegen von der Alternative einer Koalition zwischen SPD und FDP geredet - obwohl letztere nicht aus ökologischen, sondern aus marktpuristischen Gründen noch vehementer gegen die Kohlesubventionen agitieren als die Grünen. Es scheint nur noch darum zu gehen, welche Parteiführer mit welchen persönlich gut oder einigermaßen auskommen.

Diese Beispiele zeigen, wie sehr die Prozesse der Regierungsbildung und -praxis von den Programmen oder Rollen der Parteien bereits abgekoppelt sind und durch eine politische Libertinage ersetzt werden, bei der die Beteiligung an der Regierungsmacht schon als Selbstzweck einzelner Politiker gilt.

In dieses Muster gehört auch, dass das jeweilige Spitzenpersonal zum vermeintlich einzig Vorzeigbaren hochstilisiert wird, hinter dem sich Parteien zu verstecken hätten. Aus diesem Versteck werden sie dann nur noch von ihren Wahlkonkurrenten hervorgeholt, um die jeweiligen Spitzenkandidaten als Figuren zu entlarven, die nur von ihrer als unglaubwürdig, zerstritten oder nicht regierungsfähig hingestellten Partei ablenken. Die Rolle der Parteien und Fraktionen wird nur noch negativ definiert - nicht mehr als Träger der politischen Willensbildung, sondern als potentiell destruktiv abseitig und volksfern.

Diese Stimulierung der Parteienaversion entspricht den "Betrachtungen eines Unpolitischen" - also dem unseligen Werk Thomas Manns aus dem Jahr 1919, mit dem dieser den geistigen Nährboden für das antidemokratische Denken in der Weimarer Republik bereiten half. Sie steht auch in der Tradition des berühmten Satzes von Wilhelm II am Beginn des Ersten Weltkriegs: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche". In diesem Sinne werden heute nicht mehr Parteien, sondern nur noch Personen gekannt. So scheint selbst Gregor Gysi zu denken, der - individuell verständlich - gerne Direktkandidat zum Bürgermeisteramt in Berlin wäre, ohne Parteiballast. Die Personenfixierung als Substitut der Parteienorientierung kommt den Eitelkeiten all derjenigen entgegen, die ihre Rolle im demokratischen Ganzen gern als ihre ausschließlich eigene Persönlichkeitsleistung erscheinen lassen. Und sei es um den Preis der öffentlichen Herabwürdigung der jeweiligen Parteibasis, die sie erst nominiert hat.

So schlittert die Demokratie leichtfertig in jene "heikelste Krise", die einst Antonio Gramsci für den Fall voraussagt, dass sich ein genereller Zwiespalt zwischen Repräsentierten und Repräsentanten herausbildet, der sich unweigerlich im Staat wiederspiegeln" muß. Die parlamentarische Demokratie, ist ohne Parteien nicht lebensfähig und nicht krisenfest. Sie erodiert zwangsläufig, wenn Parteien diskreditiert werden oder sich selber diskreditieren. Indem ihnen nur noch die Rolle eines Zuteilungsmechanismus für politische Ämter zugestanden wird, deformiert die Parteiendemokratie zu einem System konkurrierender Verbände von Berufspolitikern. Die Folgen sind Mitglieder- und Wählerschwund. Es wird zunehmend schwerer, Menschen zur Mitwirkung in Parteien zu motivieren und politisches Personal für die Wahrnehmung der Parteifunktionen zu gewinnen. In einer Partei aktiv zu sein, gilt schon als beschränkt gesellschaftsfähig. Solange das nur bei einer Partei passiert, ist es nur für diese selbst gefährlich. Geschieht es, wie zu beobachten ist, bei allen gleichzeitig, dann fällt es schon kaum noch auf und hinterläßt bei den Bürgern nur noch ein diffuses antipolitisches Ressentiment. Dann wird es aber gefährlich für das ganze System, das mit der verloren gegangenen Legitimation seine Gestaltungskraft verliert. Denn dann droht die Berlusconisierung des demokratischen Verfassungsstaats auch hier.

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