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ChrismonArtikel erschienen in Chrismon, 01. März 2007

Ein Parteisoldat ist Hermann Scheer nicht. Wie auch?

Von Nils Husmann. Es war ziemlich deutlich, was die Lehrer der Freiherr-vom-Stein-Schule in Berlin-Spandau dem 17-Jährigen ins Zeugnis schrieben. "Hermann lässt sich oft gehen, seine Mitarbeit erstreckt sich ausschließlich auf die ihn interessierenden Fächer." Der Junge von damals, das ist Hermann Scheer, 62 Jahre alt, Träger des Alternativen Nobelpreises, Bundestagsabgeordneter und Mitglied im SPD-Bundesvorstand. "Das mit den Fächern stimmt immer noch", sagt er.

Heute wirkt Scheer manchmal selbst wie ein Lehrer. Er sitzt hinter einem Pult in einem kahlen Raum des Deutschen Bundestags in Berlin. Neben Lester R. Brown, dem Präsidenten des Earth Policy Institute in Washington D.C, einem Umweltbewegten mit ergrauten Haaren. Brown stellt sein Buch vor, Scheer übersetzt. Das Buch heißt "Plan B 2.0", Untertitel: "Mobilmachung zur Rettung der Zivilisation". Die Welt retten - Hermann Scheers Lieblingsfach.

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Hermann Scheer: Die Sonne wird schon noch rauskommen. Foto: (c) dbutzmann.de
Aber darauf musste er erst mal kommen. Nach dem Abitur ging Scheer als Offiziersanwärter zur Bundeswehr nach Hannover. 1964, mitten im Kalten Krieg. Vor dem ersten Manöver bekam er eine Plane in die Hand gedrückt, ein Meter breit, zwei Meter lang. Wofür sie gut sein sollte, wusste er nicht. Bis das Kommando "Atomschlag von rechts!" ertönte. Für Scheers Truppe war das der Befehl: ab nach links in die Böschung, hinlegen, Plane über den Kopf. Mit Plastik gegen radioaktive Strahlung? Heute lacht Scheer darüber, es klingt verraucht und ein bisschen bitter. Die Bundeswehr verließ Scheer als Leutnant und als Atomwaffengegner. Die Übung hatte ihm eine Unsinnigkeit offenbart. Und Unsinnigkeiten sind für Hermann Scheer wie Lieblingsfächer - sie lassen ihn nicht los.

 

Die atomare Bedrohung wurde ein Lebensabschnittsthema von Hermann Scheer. 1980 zog der promovierte Politikwissenschaftler erstmals für die SPD in den Bundestag ein. Schnell stieg er zum Obmann seiner Fraktion für Abrüstung und Rüstungskontrolle auf. Wäre er dabei geblieben, wäre er wohl außenpolitischer Sprecher der SPD geworden. Oder Außenminister, wer weiß? Doch mit dem Buch "Die Befreiung von der Bombe" von 1986 dachte er sich in ein neues Thema hinein. Beim Schreiben erkannte Scheer, dass Alternativen zur risikoreichen Atomenergie nicht mitgedacht worden waren, von Kohle, Öl und Gas abgesehen. Er fand das unsinnig. Und hatte ein neues Lieblingsfach. Scheer, der Mahner: "Die fossilen Brennstoffe sind endlich, bleiben wir von ihnen abhängig, wird es um sie Krieg geben."

Hermann Scheer sagt, er habe die Fähigkeit, den Kern eines Problems zu treffen, den "nervus rerum", den Nerv der Dinge. Er betont das genüsslich, wie ein Zahnarzt, der bei seinem ärgsten Feind den Bohrer ansetzt. Wenn er einen Nerv trifft, geht der "Bleiben wir von Öl und Gas abhängig, wird es Kriege geben" Eingriff erst richtig los. Dann verfolgt er das Thema - und nicht das Thema ihn. 1988 gründete er EUROSOLAR, die Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien, um mehr Menschen von seiner Mission zu überzeugen. Er ist ehrenamtlicher Präsident. Seine aussichtsreichen Fraktionsämter hat er nach und nach niedergelegt. Dieser Karriereverzicht brachte ihm unter Parteigenossen Spott ein. Und die Energiepolitiker ärgerten sich, dass er sich einmischte. Scheer kontert: "Hätten sich damals schon Heerscharen vernünftig um das Thema gekümmert, dann hätte ich es nicht machen müssen."

Scheer hat etwas Kantiges, Schnelles, trotz des gemütlichen Bauches. Urlaub kennt er nicht. Sein Eifer ist durchaus belohnt worden. 1999 erhielt er den Alternativen Nobelpreis, "für seinen unermüdlichen Einsatz gegen politische und institutionelle Widerstände, die Interessengruppen der Atomkraft und der fossilen Energieträger häufig zu errichten versuchen". Drei Jahre später kürte ihn das US-amerikanische "Time Magazine" zum "Helden für das grüne Jahrhundert" und erklärte ihn zum "solaren Kreuzritter".

Das passt. Sollen sich andere damit begnügen, Quoten für grüne Energien zu fordern - Scheer will Atom, Kohle, Gas und Öl ganz ersetzen. Schon aus Lust auf das Neue. Es freut ihn diebisch, die Lobbyisten der konventionellen Energiequellen - Scheer schimpft sie "die Pyromanen" - zu verschrecken. Seine Vision: Solaranlagen auf den Dächern, ergänzt durch Wind- und Biokraftanlagen. Für die Stromriesen ein Albtraum, für Scheer gelebte Demokratie, weil die Macht der Konzerne verteilt würde.

Der visionäre Parlamentarier gilt als einer der Vordenker des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Es verpflichtet die Energieversorger, Strom aus Sonne und Wind in ihre Netze einzuspeisen. In Deutschland spart das pro Jahr 50 bis 60 Millionen Tonnen Kohlendioxid ein, behauptet er. Über die Hälfte der EU-Mitglieder orientiert sich am deutschen Vorbild, weil der Klimawandel sie zum Umdenken zwingt.

Bei aller Konzentration aufsein Hauptthema, einen Tunnelblick hat Scheer nicht. Er pflegt sein Image als vielseitige Nervensäge. Kosovokrieg, Welthandelsabkommen, Bahnreform - wenn er Unsinn wittert, dann sagt er was dazu. Und wie. In der SPD-Fraktion heißt es: "Scheer zelebriert seine Wortmeldungen doktormäßig, nie unter zehn Minuten - aber man hört ihm zu."

Etwas anderes bleibt den Genossen auch nicht übrig. Scheer wird weiter nerven. Der Verfassung wegen. In Artikel 38 des Grundgesetzes steht, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen unterworfen sind - nicht der Partei, keinen Experten und schon gar nicht der eigenen Karriereplanung. Er muss den Mund aufmachen, so wie damals bei der Bundeswehr. "Ich will mich selbst leiden können. Das ginge nicht, wenn ich wider besseren Wissens schweigen würde."

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