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Interview erschienen in Neues Deutschland, 31. August 2005

Der SPD-Politiker Hermann Scheer fordert einen Systemwechsel für die Energiewirtschaft

Der Ausbau der erneuerbaren Energien verlangt gleichzeitig grundsätzliche Strukturveränderungen hin zu einer dezentralen Stromversorgung, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer. Mit dem bekannten Kämpfer für erneuerbare Energien und Träger des alternativen Nobelpreises, der kürzlich sein neuestes Buch »Energieautonomie« (Verlag Kunstmann, 19,90 Euro) vorgestellt hat, sprach Heiko Balsmeyer.

ND: Welche Bilanz ziehen Sie nach sieben Jahren rot-grüner Energiepolitik?
Für erneuerbare Energien ist ein politischer Vorstoß ohne Beispiel gemacht worden – durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), die Steuerbefreiung von Biokraftstoffen und eingeschränkt auch durch das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien. Es wurden aber gleichzeitig die beiden Extreme der Energieentwicklung betrieben: einerseits die Orientierung auf erneuerbare Energien, andererseits der Konzentrationsprozess der herkömmlichen Energiewirtschaft. Diese beiden Richtungen rasen jetzt aufeinander zu.

Hat der Atomkonsens zum Konzentrationsprozess beigetragen?
Das Entgegenkommen beim Atomkonsens war, das Energiewirtschaftsgesetz vom Frühjahr 1998 nicht zu korrigieren. Auf eine Regulierungskommission wurde verzichtet. Eine Nebenabsprache war, die steuerfreien Rückstellungen für die Entsorgung nicht anzutasten. Mit diesem Geld wurden Unternehmensaufkäufe im großen Stil finanziert, was den Konzentrationsprozess vorangetrieben hat.

Haben Sie deshalb vor kurzem öffentlich an die Klage einiger Stadtwerke vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Entsorgungsrückstellungen erinnert?
Die Rückstellungsfrage muss wieder aufgeworfen werden. Wenn die Stromkonzerne ihre Dauerkampagne gegen erneuerbare Energien fortsetzen, weil sie das EEG zu Fall bringen und sich gleichzeitig aus dem Atomausstieg verabschieden wollen, dann ist das Nicht-Antasten des Rückstellungsproblems hinfällig.

Welche strukturellen Veränderungen werden erneuerbare Energien hervorbringen?
Wir müssen uns fragen: Wie ist der Verlauf der Entwicklung eines Energiesystems? Zunächst entscheidet man sich für eine Energiequelle. Der nächste Schritt ist dann die Entwicklung der Technologien für die Nutzung dieser Quelle, und der dann folgende Schritt ist der weitere Ausbau und die Schaffung einer Infrastruktur, die auf die Energiequelle und deren Technik zugeschnitten ist. Deswegen ist es ein großer Irrtum anzunehmen, die heutige Infrastruktur sei neutral, man müsse nur die Energiequellen auswechseln. Dann aber werden erneuerbare Energien unnötig teuer. Die tatsächlich gegebenen Produktivitäts- und Nutzungsvorteile werden dann gar nicht genutzt. Also muss man immer an der Quelle ansetzen.

Indem man die zentrale durch eine dezentrale Struktur ersetzt?
Je mehr eine dezentrale die bisherige zentrale Stromerzeugung ablöst, desto teurer wird die auf Großkraftwerke ausgerichtete Infrastruktur, weil sie weniger ausgelastet wird. Schließlich werden Neuinvestitionen in das herkömmliche System ganz aufgegeben. Die Befürworter des herkömmlichen Systems wollen diesen Prozess aufschieben. Doch er muss ausgelöst werden.

Wie ließe sich diese Emtwicklung hin zu einer dezentralen Stromversorgung, die weit mehr auf erneuerbare Energien setzt, beschleunigen?
Dies ist nur dann möglich, wenn wir nicht weiterhin versuchen, erneuerbare Energien in das herkömmliche Energiesystem zu integrieren und dessen Infrastruktur zum Maß der Dinge zu machen. Wir müssen die erneuerbaren Energien zum Maßstab machen. Das verstehe ich unter »Energieautonomie«. Es geht darum, viele autonome Investitionen in erneuerbare Energien zu erleichtern, bei denen nicht mehr gefragt werden muss, ob diese Investitionen mit den Planungen der Energiewirtschaft übereinstimmen. Nur dann kommt die Bewegung zustande. Das wäre eine echte Revolution.

Haben die Energiekonzerne Recht, wenn sie die Erneuerbaren für die steigenden Strompreise verantwortlich machen?
Das ist total verlogen. Die Konzerne belasten die Kunden mit Energiepreisen, die durch nichts begründet sind. Es gibt keinen öffentlichen Protest der Stromkunden gegen die Mehrkosten erneuerbarer Energien – jedenfalls dann nicht, wenn sie wissen, wie niedrig diese Mehrkosten im Verhältnis zum Gesamtpreis sind.

Kann das EEG weiter gegen den Widerstand der Stromkonzerne erfolgreich verteidigt werden?
Wir haben praktische Erfahrungen, wie die Lieblingsmodelle der Energiewirtschaft funktionieren. Diese Quoten-Modelle (ohne feste Abnahmepreise für Strom aus erneuerbaren Energien, d.Red.) sind weder billiger noch fördern sie die Technologie noch sind sie marktgemäßer. Alle Behauptungen sind nachweisbar falsch.

Gäbe es nicht auch die Möglichkeit, dass die großen Stromkonzerne selbst massiv erneuerbare Energien nutzen?
Nur theoretisch. Die Stromkonzerne würden bei ihrer Teilnahme am Ausbau erneuerbarer Energien logischerweise eine Entwicklung fördern, die sie niemals wieder unter Kontrolle halten könnten. Erneuerbare Energien stellen einen Systemwechsel dar – von wenigen großen Anbietern zu zahllosen kleineren Energieproduzenten. Das würde den Verlust ihrer Monopolstellung bedeuten.

Mit welchen Besonderheiten der Nutzung erneuerbarer Energien lässt sich das erklären?
Nach wie vor dominiert die Primärenergiewirtschaft mit Öl, Gas und Kohle. Die Mobilisierung erneuerbarer Energien führt auch zu einem Wechsel von kommerziellen zu nicht-kommerziellen Primärenergien. Man kann aus der Sonnenstrahlung oder der Windkraft kein Geschäft machen. Die heutige Energiewirtschaft besteht aus Primärenergie- und Technologiegeschäft. Die erneuerbaren Energien bestehen nur noch aus einem Technologiegeschäft, aber eben nicht mit wenigen Großtechnologien. Das heißt, es wäre nicht möglich, das heutige Anbieteroligopol zu halten.

Wie ist Ihre Einschätzung der energiepolitischen Vorstellungen der Linkspartei?
Die Linkspartei ist die einzige Partei, die 100 Prozent erneuerbare Energie fordert. Bei den Wahlkampfakteuren spielt das allerdings keine Rolle. Das ist aber ein Manko, das auch Rot-Grün hat. Ich halte es für einen Fehler, dass im Zentrum des Wahlkampfes nicht die energiepolitische Kontroverse steht, obwohl alle Steilvorlagen dazu von der CDU/CSU sowie der FDP gegeben werden.

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