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pc_windrad_raps120.jpgDer gesamtwirtschaftliche Erneuerungsimpuls durch Erneuerbare Energien

Von Hermann Scheer, August 2009

Der harte Kern jeder Wirtschaft ist die Ressourcenbereitstellung und –umwandlung. Der harte Kern der Umweltbeschädigung sind die Schadstoffe, die bei der Umwandlung schadstoffhaltiger Ressourcen anfallen. Damit ist der Wechsel zu erneuerbaren Ressourcen und schadstofffreien Ressourcen und die drastische Steigerung der Ressourcenproduktivität der „systemische“ Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Realwirtschaft insgesamt. Im Zentrum realwirtschaftlicher Zukunftsfähigkeit muss deshalb ein Verständnis stofflicher Ökonomie stehen. Wenn etwas dem Anspruch auf wirtschaftliche Ideologiefreiheit erheben kann, dann ist es diese, weil ihr naturgesetzliche Gegebenheiten zugrunde – was heißt: außerhalb dieser Gegebenheiten gibt es keine andere Möglichkeit praktischen Daseins. Stoffliche Ökonomie ist naturbestimmt.

 

Deshalb ist das existenzielle Problem der volkswirtschaftlichen Entwicklung, dass sich die Weltwirtschaft weit überwiegend auf schadstoffhaltige fossile Ressourcen stützt und diese gleichzeitig endlich sind. Dieses verschärft sich, je länger der Ressourcenwechsel verschleppt wird. Es ist demgegenüber eine existenzielle neue gesamtwirtschaftliche Chance, wenn dieser Ressourcenwechsel nicht mit aller Konsequenz eingeleitet wird.

Die Weltwirtschaft ist in ihrem Energieverbrauch gegenwärtig zu 36 Prozent vom Erdöl abhängig und zu jeweils über 20 Prozent von Erdgas und Kohle. Erdöl stellt darüber hinaus zu 90 Prozent die Grundstoffe der chemischen Industrie. Deutschlands Energieverbrauch war 1950 von 5 Prozent Energieeinfuhren abhängig, jetzt zu etwa 75 Prozent. Die billigen Erdöl- und Erdgas-Einfuhren versiegen in den nächsten Jahrzehnten. Auch die Kohle-Einfuhren werden – trotz im Verhältnis zu Erdöl und Erdgas größerer Reserven – teurer: Für die nur sechs großen Kohleexportländer gibt es keinen Grund, den durch die Verknappung von Erdöl und Erdgas gegebenen Spielraum zur Preiserhöhung nicht auszuschöpfen. Je mehr wir uns dem jeweiligen Endverbrauch nähern, desto unberechenbarer werden internationale Konflikte und desto mehr steigen die Kosten und schnüren Produktion wie Konsum ein, neben den zunehmenden Wirtschaftsschäden in wachsender Milliardenhöhe. Ähnliches gilt für die Erzvorkommen, für deren Substitution allerdings mehr Zeit bleibt, weil diese größtenteils wieder verwertbar sind.

Durch erneuerbare Energien erhalten alle Wirtschaftssektoren und Unternehmen eine neue Effizienz- und Wachstumschance. Allerdings wird immer noch vielfach das objektive Eigeninteresse an dieser Entwicklung verkannt, die umso mehr neue wirtschaftliche Früchte trägt, je schneller sie vorangetrieben wird.
Dies zeigt sich an den damit verbundenen technologisch-industriellen Perspektiven für die bestehenden Wirtschaftszweige, eben nicht nur für die Produzenten der Anlagen für erneuerbare Energien.

So liegt es im Interesse der Automobilindustrie, ihre 100-jährige Allianz mit der Mineralölwirtschaft aufzugeben. Dass die Automobile und damit deren Produzenten als Umweltgefahr gelten, liegt vor allem am fossilen Kraftstoff. Engpässe und Preisexplosionen aufgrund des sich verknappenden Erdöls, treffen die Automobilindustrie direkt – im Gegensatz zu den Mineralölkonzernen, die bisher von jeder Preissteigerung profitiert haben und historische Rekordgewinne einfahren. Die Automobilindustrie muss sich vom fossilen Kraftstoffbedarf emanzipieren: durch kraftstoffsparende Fahrzeuge und vor allem solche, die mit erneuerbaren Energien – vor allen Strom - angetrieben werden. Sie muss daran interessiert sein, den Schritt in die Massenproduktion der diesbezüglichen Antriebstechniken unverzüglich zu vollziehen. Damit kann sie gleichzeitig der Gesellschaft den Weg zum Energiewechsel öffnen helfen. Mit ihrem wirtschaftlichen Gewicht muss sie sich dafür einsetzen, dass politische Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Markteinführung dieser Techniken und der dafür zu aktivierenden erneuerbaren Energiepotentiale ausweiten.

Die Automobilindustrie ist darüber hinaus dafür prädestiniert, zum Produzenten für stationäre Motorkraftwerke zu werden, ob es sich um Blockheizkraftwerke, mit Brennstoffzellen betriebene oder um Stirling- oder Druckluftmotoren handelt. Deren industriellen Mobilisierung durch die Automobilindustrie kämen die Degressionseffekte aus der Massenproduktion der Motoren zugute. Gleichzeitig kann sie mit der Einführung des Elektrofahrzeugs zur treibenden technologischen Kraft für die Entwicklung und Einführung neuer Batterietechniken werden, womit der „Stromwechsel“ von atomaren und fossilen zu erneuerbaren Energien insgesamt erleichtert und beschleunigt wird.

Die Automobilindustrie kann nicht nur ihre Erfahrung in der Motorenentwicklung einbringen, sondern auch die der Vermarktung dezentraler Anlagen über ein weit gespanntes Händler- und Werkstattnetz. Sie darf deshalb auch die Ausgestaltung der Energiegesetze nicht mehr allein der Einflussmacht der Energiekonzerne überlassen. Je mehr die Energiegesetze die Einführung erneuerbarer Energien und dezentraler Anlagen zur Stromerzeugung begünstigen, desto größer sind die Marktchancen der Motorenhersteller auf dem Kleinkraftwerksmarkt und die Diversifizierungschancen der Automobilindustrie selbst. Sie kann damit zum stärksten industriellen Motor des Strukturwandels werden. Die Automobilindustrie darf deshalb den Konflikten zwischen konventioneller und erneuerbarer Energien in der Energiegesetzgebung nicht länger gleichgültig gegenüberstehen oder sich gar auf der Seite der konventionellen Energieinteressen stehen.

Die elektro- und informationstechnische Industrie ist prädestiniert, neue Stromspeichertechniken zu entwickeln und zu optimieren. Der Markt für Erneuerbare-Energie-Anlagen wächst umso schneller, je intelligenter und kostengünstiger die Speichertechniken werden. Unterschätzt wird bisher auch das gigantische Marktpotential für energieeffiziente Geräte sowie für solche, die ihren Strom künftig solartechnisch selber produzieren. Erweiterte Marktchancen winken auch durch die Neuauslegung von Stromnetzen und die Einführung von „smart grids“, also lokalen und regionalen Netzen und Netzmanagementtechniken, die sich aus dem Wechsel zu einer dezentralen Stormerzeugung mit erneuerbaren Energien ergeben.

Im originären Interesse der Eisenbahngesellschaften und der Schienenfahrzeugindustrie liegt es, sich in der Entwicklung von Triebwagen zu engagieren, die mit Brennstoffzellen betrieben werden. Dies eröffnet die Möglichkeit, Lokomotiven mit an Bord erzeugtem Strom anzutreiben, sodass keine Stromoberleitungen mehr nötig wären. Damit könnten erhebliche Systemkosten im Bahnbetrieb eingespart und seine Zuverlässigkeit verbessert werden. Hinzu kommt, dass die Infrastruktur der Eisenbahn ein Potential für die Energiewende darstellt und eines zur Steigerung der Eigenproduktivität und der gesellschaftlichen Produktivität. Stromleitungen und die obligatorische n Notstromaggregate für den Schienenbetrieb sind auch nutzbar für die allgemeine Stromversorgung. Das Flächenpotential der Schienenwege und der Bahnhöfe ist breit nutzbar für den Ausbau der Windkraft und der solaren Stromerzeugung.

Im Interesse der Luftfahrtgesellschaften und der Flugzeugindustrie liegt es, sich darauf vorzubereiten, dass die fossilen Flugtreibstoffe besteuert werden, aber auch ohnedies laufend teurer werden. Auch sie brauchen eine erneuerbare Kraftstoffbasis. Die Luftfahrt ist ein potenzieller Einsatzbereich für erneuerbare Flüssigkraftstoffe. Angesichts der Bedeutung des Frachtgütertransports in der Luft ist es überdies fahrlässig, warum bisher weder von der Luftfahrtindustrie noch von den Fluggesellschaften ein Interesse an einer Revitalisierung der Luftschiffe für den Frachtflugtransport gezeigt wurde. Diese können den Transport von Frachtgütern ohne größeren Infrastrukturaufwand schneller, flexibler und umweltfreundlich machen.

Im Eigeninteresse der Schiffbauindustrie und der Reedereien liegt es, sich auf erneuerbare Energien umzustellen. Den Umstieg auf Biokraftstoffe für den Schiffsmotorenbetrieb hätten viele Reedereien wahrscheinlich schon eingeleitet, wenn die fossilen Kraftstoffe für sie nicht steuerbefreit wären. Das gegenwärtige für den Betrieb von Großschiffen eingesetzte Schweröl ist der schmutzigste aller fossilen Kraftstoffe, mit erheblichen Schäden für die Meeresbiologie
Große Passagier- und Transportschiffe haben besondere Möglichkeiten, Strom aus erneuerbaren Energien an Bord zu produzieren, sei es aus der Windkraft, die auch ohne frei stehende Rotoren zur Stromerzeugung nutzbar ist, oder über Solarstromanlagen, die in die Schiffsdächer oder in die Bordwände integriert sind. Auch die Wasserstoffelektrolyse „on board“ ist eine bedeutende technische Option, ebenso wie die energetische Verwertung organischer Abfälle an Bord der Passagier-Liner, die dort in großen Mengen anfallen und bisher einfach verklappt werden.

Die Landwirtschaft hat die einzigartige Chance, sich zu revitalisieren und zum Rohstoffprozent zu werden. Im Anbau von Rohstoffpflanzen liegt auch die Chance zur Ökologisierung der chemischen Industrie für einen grundlegenden „Stoffwechsel“: Pflanzen ersetzen Erdöl als vielfältige künftige Grundstoffbasis. Damit kann die Marginalisierung der Landwirtschaft und der ländlichen Räume seit der industriellen Revolution dauerhaft beendet werden. Auch der Nahrungsmittelindustrie eröffnet sich ein naturgegebenes zweites Geschäftsfeld und die Chance zur Produktivitätssteigerung, wenn sie systematisch dazu übergeht, ihre biologischen Reststoffe energetisch zu verwerten – zur Eigenerzeugung von Strom oder zur Erzeugung und Vermarktung von Biokraftstoffen.

Voraussetzung dafür ist, um Nachhaltigkeitsgrundsätze zu beachten, durch darauf bezogene Zertifizierung der Anbaukonzepte. Die realwirtschaftliche Umsetzung zielt auf eine regional integrierte Nahrungs-, Pflanzenenergie- und Pflanzenrohstoffwirtschaft, um die jeweils auffallenden Reststoffe als Dünge- oder Futtermittel oder energetisch zu verwerten und damit jeweils einen wirtschaftlichen Mehrfachnutzen zu ermöglichen, der bisher nicht mögliche Produktivitätsfortschritte ermöglicht und Kosten senkt. Eine subventionsfreie Landwirtschaft rückt damit ins praktisch Erreichbare.

Die Bauwirtschaft, einschließlich der Baustoffindustrie und des Bauhandwerks, wird neben der Landwirtschaft den größten Aufschwung erleben, wenn sie die Chancen des solaren Bauens für sich nutzt. Zahlreiche neue Baumaterialien und Bauweisen – von wärmedämmendem und zugleich stromproduzierendem Glas bis zu energiesparenden Holzkonstruktionen – könnten dabei zum Einsatz kommen. Jedes Gebäude muss, um die kostenlose Sonnenenergie für Wärme- und Kühlzwecke optimal nutzen zu können, auf eine der Topographie und den bioklimatischen örtlichen Bedingungen angepasste Weise darauf ausgerichtet werden – jeweils als ein Solarkonzept für sich. Die solare Umrüstung des Gebäudebestandes und solare Neubauten sind ein »goldener Boden« für Bauhandwerk und die Baustoffindustrie.

Die kommunale und regionale Energiewirtschaft erhält dauerhafte Zukunftsperspektiven, indem sie die Stromproduktion wieder in eigene Hände nimmt und als Partner der regionalen Landwirtschaft die Produktion und Vermarktung von Biokraftstoffen als neues Arbeitsfeld erschließt. Gleiches gilt für die energetische Verwertung organischer Abfälle in Städten und Gemeinden.

Auf der Basis der kommunalen Verwertung aller energetisch nutzbaren Biomassen und Reststoffe sowie der direkten Nutzung des lokalen Potenzials an solarer Strahlungsenergie, Wind, Wasserkraft, Erd- und Luftwärme sind integrierte Nutzkonzepte mit kurzen Wegen möglich, mit denen eine zentralistisch organisierte Energiewirtschaft mit ihrem weiträumigen Infrastrukturaufwand nicht konkurrieren kann. Dies gilt besonders denn, wenn Stadtwerke ihre Chance ergreifen, mit einem eigenen Potential an Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen gekoppelte Strom- und Wärmepreise anzubieten. Dabei bleiben die von der Allgemeinheit aufgewendeten Energiekosten im kommunalen und regionalen Wirtschaftskreislauf.

Auch Energiekonzerne könnten sich auf eine dezentrale Energieversorgung einstellen, indem sie sich zu einer Holding selbständig operierender Unternehmen auf kommunaler und regionaler Ebene umwandeln, um damit – wie es Joseph A. Schumpeter ausdrückte – »ihren plötzlichen Zusammenbruch zu vermeiden und in einen geordneten Rückzug zu verwandeln«. Nach Lage der Dinge werden sie jedoch wahrscheinlich die Letzten sein, die dies versuchen. Doch die jüngere Generation im Management dieser Konzerne ist zunehmend offen für solche Konzepte.

Dieser breite Strukturwandel vollzieht sich im und mit dem die Wechsel zu erneuerbaren und rezyklierbaren Ressourcen. Dieser ist der Treibsatz für die industrielle Erneuerung, weil neue Ressourcen zahlreiche neue Aneignungs-, Umwandlungs- und Anwendungstechniken erfordern. Da nicht gewartet werden kann, bis die herkömmlichen Ressourcen erschöpft bzw. ihre direkten Kosten unerträglich angestiegen sind, liegt hier die Kernfrage zukunftsfähigen Wirtschaftens. Die wirtschaftssoziologische Folge wird eine stark differenzierte Betreiberstruktur und damit eine breite Unternehmensstreuung sein: ein Strukturwandel von einer hochkonzentrierten, oligopolisierten und monopolisierten Energieversorgung zu einer unternehmerisch dekonzentrierten pluralisierten, mit der überall regionale und kommunale Wertschöpfungen stattfinden.

Diese Energieversorgung wird marktwirtschaftlicher sein, weil sie zu einer Anbietervielfalt führt und die Kapitalakkumulation in den Händen weniger Energieanbieter überwindet.

Die neue Balance zwischen Regional- und Globalwirtschaft. Mit diesem Ressourcenwechsel entsteht eine neue Balance zwischen regionaler und globaler Wirtschaftsentwicklung. Während technikproduzierende Unternehmen den globalen Markt brauchen, entsteht über die Ressourcenschöpfung aus erneuerbaren Energien und Rohstoffen ein regionaler Ressourcenmarkt, der Wirtschaftssicherheit und Standortbindung gewährleistet.Aus dem eingeleiteten Ressourcenwechsel ergibt sich ein breites industrielles Erneuerungspotential, das nicht nur neue Unternehmen hervorbringt, sondern bestehende Unternehmen eine Zukunftsperspektive eröffnet. Es geht also nicht um einen Gegensatz von „alter“ und „neuer“ Industrie, sondern eher um den zwischen alten und neuen Produkten. Dies erleichtert die Umstellung der Volkswirtschaft und des Großteils ihrer Unternehmen auf die neue Ressourcenbasis. Der dadurch ausgelöst generelle Trend ist, dass vor allem die technikproduzierenden Unternehmen die Gewinner dieser Neuorientierung sind, während die konventionelle Ressourcenwirtschaft eher zu den Verlierern gehören wird. Die Wirtschaft spaltet sich damit in kurzsichtige Altinteressen und weitsichtige Neuinteressen. Diese neuen Entwicklungen sind einzigartige Chancen zu einer neuen langen Konjunkturwelle, wie sie der Wirtschaftswissenschaftler Kondratieff beschrieben hat, die jeweils durch einen technologischen Quantensprung ausgelöst wurde, der in mehreren Wirtschaftssektoren massive neue Impulse über einen sich breit öffnenden neuen Markt gibt. Der hier beschriebene Ressourcenwechsel ist demgegenüber für alle Wirtschaftssektoren grundlegend und wird damit einen größeren und länger wirkenden wirtschaftlichen Belebungseffekt haben als alle früheren langen Konjunkturwellen. Im Unterschied zur Informationstechnologie, für die ähnliches gilt, wird er jedoch mehr Arbeitsplätze schaffen, weil beim Wechsel zu erneuerbaren Energien die fossilen Energierohstoffe durch Technik und beim industriellen Rohstoffwechsel die überkommene Rohstoffförderung durch biogenen Rohstoffanbau und technikintensive Wiederverwertung ersetzt werden.