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Memorandum, 06. April 1999

Denkschrift für eine politische Initiative statt militärischer Eskalation

Es gab und es gibt Alternativen zur Eindämmung der humanitären Katastrophe. Solange die NATO die Einstellung der Bombardierung und weiterer militärischen Eskalation allein vom Einlenken der jugoslawischen Staatsführung bzw. des Präsidenten Milosevic abhängig macht, überläßt sie diesem das Gesetz des Handelns mit möglicherweise uferlosen und unverantwortlichen Folgen:

Es ist höchste Zeit für eine Politik der De-Eskalation. Zweifellos hat Serbien über Jahre hinweg die Hauptverantwortung für die Konflikteskalation im Kosovo. Massaker und Vertreibung sind durch nichts zu rechtfertigen, ebensowenig Diskriminierungen von Volksgruppen. Um einer politischen Konfliktlösung willen darf jedoch nicht übersehen werden, daß es auch nicht durch Serbien verursachte Konflikteskalationen sowohl im Kosovo als auch in Gesamtjugoslawien gegeben hat. Dazu gehörte die 1991 vom Westen geförderte Staatenbildung nach ethnischen und religiösen Abgrenzungsprinzipien im völkischen Flickenteppich Jugoslawiens ebenso wie die vor allem von Kroatien und Serbien versuchte territoriale Neuordnung jeweils zu ihren Gunsten. Dazu gehört auch der doppelte Maßstab, den der Westen bei seinen Versuchen zur Konflikteindämmung wiederholt anlegte, etwa bei der politischen Duldung der Vertreibung der Krajina-Serben und der andauernden Verdrängung von Serben aus Ost-Slawonien.

Aktuell gehört dazu auch der Rambouillet-Vertragsprozeß, die Bombardierung und die damit verbundene Außerachtlassung des Völkerrechts. Dies sagen längst nicht nur solche "Pazifisten", die keine aktuelle Antwort auf aktuelle Gewaltanwendung haben. Auch Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt hat die NATO-Bombardierung als schweren Fehler bezeichnet. Schon jetzt hat sich die Bombardierung sogar im Sinne der von der NATO dafür gesteckten Ziele - insbesondere das der Unterbindung einer "humanitären Katastrophe" - als Irrtum und Fehlschlag erwiesen. Die Katastrophe nimmt von Tag zu Tag dramatischere Ausmaße an - und sie trifft auch zunehmend große Teile der serbischen Bevölkerung, deren Wasser- und Energieversorgung durch Bombenanschläge zerstört ist.

Für diese Bombardierung und die dahin führende Politik behauptet die NATO, daß es dazu wegen des Verhaltens der jugoslawischen Führung nie eine Alternative gab und nach wie vor keine gebe. Meine These ist: es gab und es gibt auch jetzt noch eine Alternative.

Der Rambouillet-Vertragsprozeß: mehr Konfliktförderer als -schlichter ?

Die bisher kaum erörterte Frage ist allerdings, warum ausgerechnet parallel zu den Rambouillet-Verhandlungen die serbische Vertreibungsaktion gegen die Kosovo-Albaner angelaufen ist. Viel spricht dafür, daß der Rambouillet-Friedensprozeß den Konflikt eher gefördert als geschlichtet hat.

Bei dem Rambouillet-Abkommen handelt es sich nicht - wie immer wieder verlautbart wird - um ein "ausgehandeltes Friedensabkommen", jedenfalls um kein mit der jugoslawischen Staatsführung ausgehandeltes. In dem Spiegel-Interview vom 8. März erklärte der EU-Sonderbeauftragte Petritsch, der als Mitglied der Kontaktgruppe die Rambouillet-Verhandlungen leitete: "80 Prozent unserer Vorstellungen werden einfach durchgepeitscht ... das Endergebnis wird wohl ein Diktat sein. Vor Ende April wird der Kosovo-Konflikt entweder formal gelöst sein oder die NATO bombardiert." Zu der Gefahr, daß es wegen der Militärinterventionen zu weiteren Massakern komme, erklärte Petritsch: " Die ist nicht zu unterschätzen, der Aggressionspegel der serbischen Polizei ist enorm hoch. Luftangriffe der NATO müßten dann durch Bodentruppen ergänzt werden, die Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren." Es ist äußerst ungewöhnlich, daß ein verantwortlicher Verhandlungsleiter derart unverblümt von einem Diktat-Vertrag spricht.

Tatsächlich ergibt sich aus dem Text des Rambouillet-Vertrages und dem Verhandlungsverlauf, daß es kein realistisches Anzeichen für eine Unterzeichnung durch die jugoslawische Staatsführung gab - obwohl dies wiederholt der Öffentlichkeit und auch dem Bundestag suggeriert wurde:

Dies entspricht faktisch einem NATO-Truppenstatut für Jugoslawien insgesamt, was normalerweise nur ein Staat nach einer vollständigen Kapitulation zu unterschreiben bereit ist. Selbst eine demokratisch gewählte gemäßigte jugoslawische Regierung hätte diesen Vertrag nicht unterschreiben können, ohne innenpolitisch unverzüglich ihren Bestand zu verlieren.

Vor diesem Hintergrund leuchtet die Beobachtung von Werner Link, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Köln, ein, warum die Kosovo-Albaner nach ebenfalls anfänglicher Weigerung den Rambouillet-Vertrag unterschrieben haben: "US-Außenministerin Albright hatte erklärt, es werde keinen Militärschlag gegen Jugoslawien geben, wenn auch die Kosovo Albaner den Friedensplan ablehnten. Das heißt, die Kosovo-Albaner konnten davon ausgehen, daß ihre Unterschrift zur NATO-Intervention führte. Die Luftschläge würden Jugoslawien bzw. Serbien entscheidend schwächen und damit die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten ändern." (Frankfurter Rundschau, 2. 4. 1999) Indem über einer serbischen Unterschriftsverweigerung die Bombardierungsdrohung stand, wurde die Entscheidung über die tatsächliche Bombardierung mit in die Hand der Kosovo-Albaner gelegt. Die NATO hat sich damit in einen militärischen Entscheidungsautomatismus begeben, der immer weniger von ihr selbst, sondern zunehmend von serbischer und kosovarischer Seite aus gesteuert wurde - und der mittlerweile militärischer statt politischer Dynamik unterworfen ist. Die Friedensziele für den Kosovo wurden also mit einem ungeeigneten Vertragswerk und mit einem Scenario verfolgt, womit die Situation aufgeheizt statt befriedet wurde.

Die beiden grundlegenden politischen Fehler der NATO-Regierungen sind, daß sie

Ein überzogener Rollenanspruch der NATO führte zu einer Politik mit ungeeigneten Mitteln und zum Verlust der politischen Kontrolle über die Ereignisabläufe. Besonders die beiden in den Rambouillet-Vertrag nachgeschobenen Punkte - die Eröffnung der Perspektive voller staatlicher Selbstständigkeit des Kosovo auf der Basis eines Referendums und der Ausschluß von Nicht-NATO-Staaten aus der vorgesehenen Friedenstruppe - haben die Ablösung politischer durch militärischer Aktionen eingeleitet. Die Bombardierung war vielleicht die militärische ultima ratio dieses falsch angelegten Friedensprozesses, aber sicher nicht die politische ultima ratio zur Konflikteindämmung. Voraussetzung jeder politischen Besinnung ist, daß die durch serbische Armee- und Polizeieinheiten und paramilitärische Verbände ausgeübten Greueltaten nicht dazu verleiten dürfen, die stets unabdingbare Differenzierung im Bewerten und Ergreifen politischer und militärischer Schritte aus den Augen zu verlieren. Nicht jeder, der die Bombardierung für falsch hält, ist ein dogmatischer und realitätsblinder Pazifist, der tatenlos Massakern und Vertreibungen zusehen will. Und nicht jeder, der für die NATO-Bombardierung und für eine weitere militärische Eskalation ist, hat ein humanistisches Motiv.


 

Schritte zur De-Eskalation

1. Die Bombardierung durch die NATO-Luftstreitkräfte muß eingestellt werden.

Die Bilanz der Bombardierung ist, daß Massaker und Vertreibung zwar nicht durch sie eingeleitet wurden. Sie hat das aber keinesfalls verhindert, sondern offenkundig exzessiv gesteigert. Menschen fliehen vor serbischen Gewalttätern und auch vor den Bomben. Gerade deshalb sollten die Fakten und die Bilder des Grauens nicht zur Legitimierung weiterer Bombardierungen und zur Emotionalisierung für eine militärische Eskalation benutzt werden. Im Gegenteil: Die Greuel sprechen für eine Einstellung der Bombardierung statt deren Fortführung. Ihre Fortsetzung brutalisiert weiter das Verhalten serbischer Verbände im Kosovo, vergrößert die wechselseitigen Feindprojektionen und schweißt die serbische Bevölkerung unter Milosovic zusammen. Die Einstellung der Bombardierung ist keine Gefälligkeit zugunsten Milosovics, sondern eine Konsequenz ihrer kontraproduktiven Folgen. Die Zerstörung von Kraftwerken, der Wasserversorgung und anderer Infrastruktureinrichtungen weit ab vom Kosovo sind überdies ausgeweitete Verstöße gegen das Völkerrecht. Sie sind auch durch die Berufung auf die Völkermordkonvention, mit der teilweise die NATO-Bombardierung begründet wurde, nicht zu legimitieren.

Die Ausweitung der Bombenziele kann sich auch auf keine parlamentarische Beschlußfassung stützen. Ein drohender "Gesichtsverlust" der NATO ist kein ausreichender Grund, die Bombardierung fortzusetzen. Es geht geht um die Menschenschicksale, nicht um die NATO-Entscheidungsträger. Die emotionale Umwidmung der NATO-Bombardierung in Strafaktionen zu Lasten der serbischen Bevölkerung macht Friedenslösungen immer schwerer. Die Serben sind das größte Volk des ehemaligen Gesamtjugoslawien, Serbier leben außer in Slowenien in allen Staaten. Eine Friedenslösung ist ohne Serbien nicht denkbar. Deshalb muß die politische Diplomatie wieder das Heft in die Hand nehmen.

2. Alle Kräfte einschließlich der militärischen Transportkapazitäten sollten auf humanitäre Hilfsaktionen konzentriert werden.

Die menschliche Katastrophe hat ein Ausmaß erreicht, das nur mit gigantischem personellen und finanziellen Aufwand bewältigt werden kann. Mit der Fortsetzung der Bombardierung und weiterer Eskalation werden die Geldmittel buchstäblich verpulvert, die für Hilfsaktionen im Kosovo und den Nachbarregionen fehlen - und die erst recht für den Wiederaufbau fehlen werden, der mit einer Friedensregelung im gesamten Balkan verbunden sein muß.

3. Der UN-Sicherheitsrat sollte unverzüglich einberufen werden, mit dem Ziel, die Entsendung einer UN-Truppe in den Kosovo zu beschließen, auch wenn die unmittelbaren Konfliktparteien nicht einverstanden sein sollten.

Diese Truppe braucht ein Mandat zur militärischen Unterbindung jeglicher zwischenmenschlicher Gewaltanwendung und Vertreibung. Sie muß die Rückkehr von Vertriebenen und der Hilfsorganisationen sichern. Es geht hier also nicht um eine UN-Blauhelmtruppe, die wie in früheren Jahren tatenlos Gewalthandlungen zusehen mußte und deshalb in den Augen vieler Betroffener diskreditiert ist. Die Ausweitung des Mandats einer UN-Truppe und ihr Einsatz gegebenenfalls auch ohne Zustimmung der Konfliktparteien ist inhaltlich und formal wesentlich weniger problematisch als es die Mißachtung des Völkerrechts, des NATO-Statuts und des Grundgesetzes im Zusammenhang mit den Luftschlägen der NATO ist.

Die Einsetzung der UN-Truppe ist auch die politische Chance, Rußland wieder integral einzubinden und an dem Friedensgestaltungsprozeß zu beteiligen. Die Chance ist groß, daß Rußland einer solchen Truppe zustimmt. Das Telefonat zwischen Bundeskanzler Schröder und dem russischen Premierminister Primakow im Anschluß an Primakows Gespräche in Bonn - und die Hinweise auf ein bederseitiges Einverständnis, das Drama in Jugoslawien auf dem G8-Gipfel zu behandeln - zeigen, daß ein Konfliktlösungsbeitrag Rußlands erhofft wird.

4. Der Rambouillet-Vertrag sollte ad acta gelegt werden.

UN-Generalsekretär Annan sollte zu einer Vermittlungsinitiative gebeten werden, um darauf hinzuwirken, daß die Vertreibung im Kosovo eingestellt wird, die Rückkehr Vertriebener beginnen kann und eine Friedens- und Wiederaufbau-Konferenz für die Balkan-Region muß unter Beteiligung aller OSZE-Staaten einberufen wird.

Ziel muß ein Vertrag zum Schutz staatlicher Integritäten auf der Grundlage der Einhaltung von Menschenrechten und Volksgruppenrechten sein, in Verbindung mit der unbefristeten Einsetzung einer UN-Polizeitruppe in Grenzregionen und ethnischen Mischgebieten. Er muß ergänzt werden um einen Wiederaufbauplan und Wirtschaftshilfen der EU, einschließlich jedem Balkanstaat eröffneten EU-Assoziierungsangeboten. Zu den Elementen eines solchen Vertrages muß die ungehinderte Rückkehrmöglichkeit vertriebener Volksgruppen gehören, an die die Wirtschafts- und Wiederaufbauhilfen sowie Assoziierungsangebote geknüpft werden.

Der Vertrag muß sich mit seinen Hilfsangeboten und -bedingungen auf die verbliebene Jugoslawische Republik, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Albanien erstrecken.

5. Der künftige Vertrag sollte einen Balkan-Kooperationsrat vorsehen, aus dem Formen und Strukturen neuer Zusammenarbeit und der Regelung von Konflikten untereinander allmählich wieder entstehen können. Alle Staaten auf dem Balkan sollten zur Mitwirkung aufgefordert werden.

6. Die NATO sollte sich künftig wieder auf ihre originäre Rolle beschränken.

Ihre Ambitionen, sich eigenmächtig die Rolle der UNO oder der OSZE anzueignen, unterspülen das UN-System und schaffen mehr neue Konflikte als bestehende damit gelöst werden können. Der NATO fehlt es an Legitimation und an möglicher Glaubwürdigkeit für eine solche Rolle. Sie ist aufgrund der strukturellen Dominanz der USA im Bündnis nicht in der Lage, international gegen Verletzungen von Menschenrechten oder internationaler Verträge vorzugehen, wo diese von den USA aufgrund ihrer weltweiten Interessenlage toleriert werden. Der neue NATO-Rollenanspruch verhindert überdies die Entwicklung einer eigenständigen Außenpolitik der Europäischen Union.