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Pressemitteilung, 11. Juli 2007

Zu den aktuellen Forderungen nach einer Laufzeitverlängerung deutscher Atomreaktoren, gar nach neuen Atomkraftwerken und den dafür angegebenen Gründen sagte heute Dr. Hermann Scheer, Mitglied im Zukunftsteam der hessischen SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti für Wirtschaft und Umwelt: "Vor allem drei Gründe werden für eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke und sogar – wie im Fall des Hessischen Ministerpräsidenten Koch – für einen Neubau von Atomkraftwerken in Feld geführt:

1. Atomenergie sei klimafreundlich.

2. Der Atomausstieg würde zur wirtschaftlichen Belastung für Bürger und Volkswirtschaft, weil er zur Erhöhung der Strompreise führe.

3. Durch den Atomausstieg würde sich Deutschland international isolieren.

Keines dieser Argumente hält einer näheren Überprüfung stand.

1. Atomenergie ist nicht umweltfreundlich

Die Behauptung, dass Atomenergie umweltfreundlich sei, stützt sich im Wesentlichen auf die seit einiger Zeit allein auf das CO2-Klimaproblem fixierte Energiediskussion. Atomenergie ist jedoch deshalb keineswegs emissionsfrei. Die Emissionen der Energie sind Atommüll und die radioaktiven Strahlenbelastungen. Hinzu kommen aber weitere Faktoren, die in der aktuellen Diskussion überwiegend übersehen werden:

- Atomstrom ist zunehmend indirekt durch fossile Energiemissionen belastet, die bei den vielen Verarbeitungsschritten von der Uranerstgewinnung bis zum fertigen Brennelement freigesetzt werden. Zur Befriedigung des Uranbedarfs werden immer schlechtere Erzqualitäten ausgebeutet, was zu einem wachsenden Bedarf an fossilen Energien führt. Zur Gewinnung der gleichen Uranmenge bei einem Erzgehalt von nur 0,25 Prozent muss zehnmal mehr Gestein abgebaut, transportiert, gemahlen und verarbeiten werden als bei einem Erzgehalt von 2,5 Prozent. Die Uranförderungen müssen aber zunehmend die minderwertigen Erze an oft tief gelegenen Lagerstätten schürfen. Eine niederländische Studie (van Leauwen/Smith: Nuclear Power – the Energy Balance) aus dem Jahr 2005 besagt, dass in etwa 20 Jahren jede Kilowattstunde Atomstrom bereits stärker CO2-belastet sein wird als Strom aus Gaskraftwerken. Eine im Auftrag der australischen Regierung erstellte Studie aus dem Jahr 2006 (Bilek/Hardy/Lenzen: Life-Cycle Energy Balance and Green House Gas Emissions of Nuclear Energy) hat sogar ermittelt, dass angesichts des dort nunmehr anstehenden Abbaus von Erzen mit einem Urangehalt von nur noch 0,15 Prozent eine Belastung von 65 g CO2 pro Kilowattstunde Atomstrom eintritt. Aber schon in wenigen Jahren werde es nötig sein, auf noch wesentlich schlechtere Erze mit 0,04 bis 0,08 Prozent Uranerz zurückzugreifen. Wird nur noch ein Urangehalt von 0,01 oder 0,02 Prozent erzielt, was bereits 2030 der Fall sein kann, wird eine Kilowattstunde Atomstrom genauso viel fossile Energie verbraucht haben wie für ihre Produktion erforderlich ist. Noch ist der fossile Energieeinsatz relativ niedrig, weil weltweit etwa 30 Prozent des Uranbedarfs für die Atomstromproduktion aus Anfang der 90er Jahre abgerüsteten Atombombenpotentials stammt. Dieses Potential ist bald aufgebraucht. Bei einer überwiegend noch marktüblichen Erzkonzentration von 0,15 Prozent ist heute schon die Energierücklaufzeit der Atomkraftwerke bei etwa sechs Jahren – mit anderen Worten: Sechs betriebene 1.000-MW-Atomkraftwerke entsprechen der Energieproduktion eines fossilbetriebenen 1000 MW-Kraftwerks (zum Vergleich: Eine Windkraftanlage liefert 100x mehr Energie als für ihren Bau gebraucht wurde).

- Atomkraftwerke belasten das jeweilige regionale Klima durch ihren immensen Wasserverbrauch – sogar noch mehr als es bei fossilen Großkraftwerken der Fall ist. Alle diese Kondensationskraftwerke zusammen sind der größte Wasserverbraucher in Deutschland (27 Mrd m3 von 34 Mrd m3, also 74 Prozent). Davon geht deutlich über ein Drittel auf das Konto der Atomkraftwerke. Man unterscheidet zwischen Wassernutzung und Wasserverbrauch. Bei ersterem wird das Wasser weiter genutzt, während es beim zweiten wieder aufbereitet werden muss oder dem regionalen Wasserhaushalt entzogen ist. Die Wassernutzung bei Atomkraftwerken liegt bei 3,2 l pro Kilowattstunde. In diesem Fall wird das Wasser in die Entnahmequelle zurückgeführt, jedoch in erwärmten Zustand – mit den Folgen einer Störung des Ökosystems Wasser (Sauerstoffverlust, Tod von Fischen und anderen Wasserorganismen). Ein regionaler Wasserverlust tritt ein durch die Verdunstung des Wassers. Diese liegt bei allen Kondensationskraftwerken in Deutschland bei 50 m3 pro Sekunde Wasserdurchfluss (zum Vergleich: Die Gesamtflussmenge an den großen deutschen Flüssen beträgt 5000 m3 pro Sekunde). Hinzu kommen ungezählte Verdunstungsmengen aus dem Wassergehalt in der Luft aus der Umgebung solcher Kondensationskraftwerke. Durch beide Effekte wird dem Naturhaushalt notwendige Verdunstungskühlung entzogen, was die Erwärmung der Erdoberfläche (allein in Hessen lt. Klimabericht der Landesregierung 0,55 Grad pro Dekade) durch die Treibhausgasemissionen verstärkt.

- Die Atomenergie ist die effizienzfeindlichste Energiequelle. Kraft-Wärme-Kopplung ist damit – wie bei fossilen Großkraftwerken auch – kaum möglich. Fossile Energie (Kohle, Erdgas, Öl) können auch in dezentralen Anlagen eingesetzt werden, die eine volle energetische Nutzung der Wärme (und damit eine Ablösung von allein für die Wärmeversorgung eingesetzten Brennstoffe) mit Effizienzsteigerungen um 100 Prozent ermöglichen. Mit Atomenergie ist das nicht möglich. Daraus ergibt sich: Atomkraftwerke blockieren den fälligen größten Effizienzsprung in der herkömmlichen Energienutzung. Wie groß dieser sein kann, zeigt das Beispiel Dänemarks zwischen 1993 und 2001. Dort gelang es in nur acht Jahren 60 Prozent des gesamten Wärmebedarfs mit der Stromproduktion zu verdoppeln.

2. Atomenergie belastet die Energiepreise und die Volkswirtschaft

Das dänische Beispiel – das sowohl gegen Atomkraftwerke wie gegen fossile Großkraftwerke spricht – zeigt, dass bei einer Energiekosten-Analyse das Energiebereitstellungssystem insgesamt und nicht nur die Stromerzeugungskosten betrachtet werden muss. Kraft-Wärme-Kopplung bedeutet auf den ersten Blick etwas höhere Strompreise, dafür deutlich niedrigere Wärmepreise. Es bedeutet aber auch eine Entmonopolisierung der Stromerzeugung, damit mehr Markt und auf diesem Wege Chancen für niedrigere Preise.

Der größte preistreibende Faktor bei Strompreisen ist die monopolisierte Stromproduktion in Großkraftwerken. Der Vorschlag des hessischen Wirtschaftsministers für eine Eigentümerentflechtung bei Großkraftwerken verfehlt deshalb das angegebene Ziel niedriger Strompreise. Es wird erst erreichbar sein durch eine dezentralisierte Produktionsstruktur. Der Beweis dafür ist, dass die Stromproduktionskosten weit über die angestiegenen Brennstoffkosten steigen, obwohl die vier deutschen Stromkonzerne in den letzten Jahren keine nennenswerten neuen Kraftwerksinvestitionen tätigten und ihre Atomkraftwerke abgeschrieben sind. Trotzdem verhindert der „billige Atomstrom“ nicht das Ansteigen der Strompreise.

Wie bei jedem abgeschriebenen Kraftwerk oder Produktionsanlage sind die Kosten für jede produzierte Einheit sehr niedrig. Vergessen wird dabei, dass die Atomenergie sowohl bei ihrer Marktentwicklung als auch in der jetzigen Phase immer noch massive zum Teil finanzielle staatliche Unterstützung erfährt. Die direkte und indirekte Unterstützung der Atomenergie betrug alleine im Jahr 2006 knapp 3,8 Milliarden Euro – hierunter sind neben den Forschungsausgaben von Bund, Land und EU auch die steuerlichen Vorteile bei der Energiebesteuerung als auch der Behandlung der Rückstellungen für die Stilllegung und atomare Entsorgung sowie die Bevorteilung der Atomkraft durch den Emissionshandel. Dabei bleiben die Berücksichtigung der externen Kosten der Atomenergie (ca. 13 Milliarden Euro bzw. ungefähr 6,5 Cent/kWh) sowie die Einbeziehung einer vollständig privaten Haftpflichtversicherung für Atomkraftwerke außen vor. Letzter Punkt würde nach einem Prognos-Gutachten aus dem Jahre 1998 zu Gestehungskosten für Atomstrom von 1,80 Euro/kWh führen.

Darüber hinaus sind die Produktionskosten für Atomstrom nur deshalb relativ niedrig, weil die AKW-Betreiber seit dem Beschluss über den Atomausstieg im Jahr 2001 die laufend notwendige Sicherheitsinvestitionen vernachlässigt haben. Die meisten Störfälle und Betriebsausfälle der letzten Jahre sind darauf zurückzuführen, so aktuell die in Krümmel und Brunsbüttel. Auch die Biblis-Reaktoren in Hessen machen hiervon keine Ausnahme. Am 27.3.1991 machte der seinerzeitige Minister für Umwelt und Reaktorsicherheit Weimar für das AKW Biblis 49 nachträgliche Auflagen. Von diesen sind, nach 16 Jahren, nach meinen Informationen weniger als die Hälfte umgesetzt! Die hessische Landesregierung deckt offensichtlich dieses Verhalten, um RWE von den Investitionskosten zu verschonen. Statt den Antrag von RWE, ausgerechnet für den Biblis A eine Laufzeitverlängerung zu unterstützen, ist die endgültige Abschaltung dieses Reaktors geboten – so wie es schon Ende der 90er Jahre von der zuständigen hessischen Ministerialverwaltung begründet, aber politisch nie umgesetzt wurde. Ich darf Ihnen mitteilen, dass Frau Ypsilanti beabsichtigt, im hessischen Landtag alsbald einen Berichtsantrag mit begleitendem Fraktionsantrag für das Plenum zu stellen, um die Landesregierung zu einer klaren Aussage zu veranlassen, welche Auflagen von 1991 nicht umgesetzt sind.

3. Die Mär der Nuklar-Renaissance

Selbst die atomfreundliche "Nuclear Energy Agency" (NEA) der OECD kommt in einem internen Bericht der Arbeitsgruppe "Nuklear-Renaissance" zu denen für sie betrüblichen Ergebnis, dass es weltweit gar kein Wiedererstarken der Atomenergie gibt. Bisher gibt es lediglich Lippenbekenntnisse und schwammige Ankündigungen von Politikern und Regierungen zu einem Ausbau der Atomenergie, handfeste Planungen oder Umsetzungen wurden selbst von der NEA nicht festgestellt. Vor dem Hintergrund solch vager Ankündigungen kann nicht von einer Isolierung Deutschlands gesprochen werden."

www.spd-hessen.de