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EUROSOLAR-Pressemitteilung, 17. August 2005 

Auf der heutigen Pressekonferenz zur Diskussion um die geforderte Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftkraftwerke erklärt der Bundestagsabgeordnete Dr. Hermann Scheer (SPD), der zugleich ehrenamtlicher Präsident von EUROSOLAR, der gemeinnützigen Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energien, ist:

Zum Hintergrund des Konflikts über die Atomrückstellungen

Seit Jahren ist die Praxis der steuerfreien Rückstellungen der Atomkraftwerkbetreiber für die atomare Entsorgung politisch wie rechtlich umstritten. Dies gilt insbesondere für die beliebige Verwendbarkeit dieser Rückstellungen, die von den Atomkraftwerksbetreibern für den Aufkauf anderer Stromunternehmen und dem Einkauf von Unternehmen auch außerhalb des Energiesektors eingesetzt werden.

Im November 1998 legte ich der SPD-Fraktion einen Gesetzentwurf „Zur Bildung eines öffentlichen Rücklagen-Fonds für die Folgekosten der Kernenergienutzung“ vor, der als Gruppenantrag von 32 weiteren SPD-Abgeordneten unterzeichnet worden war. Er sah vor, dass die steuerfreien Rückstellungen der Atomkraftwerksbetreiber in einen öffentlich-rechtlichen Fonds eingezahlt werden. Dieser müsse die zurückgestellten Geldbeträge so anlegen, dass ihre Verfügbarkeit sowie eine angemessene Verzinsung und kurzfristige Zahlungsbereitschaft gesichert sind. Die Atomkraftwerksbetreiber hätten gegenüber diesem Fonds einen Anspruch auf Auszahlung der geleisteten Beiträge, sobald die zurückgestellten Gelder für die Folgekosten der Atomenergienutzung (Rückbau von Anlagen, Endlagerung) benötigt werden. Sie durften nicht veräußert, verpfändet, gepfändet oder zur Konkursmasse eines Stromkonzerns gezogen werden.

Dieser Gesetzentwurf kam seinerzeit auch nicht in der rot-grünen Koalition zum Zuge, weil diese den angestrebten Erfolg der seinerzeit begonnenen Konsensgespräche mit den Atomkraftwerksbetreibern über einen Ausstieg aus der Atomenergie nicht gefährden wollte. Der „politische Preis“ des später erreichten Konsenses war, dass die Rückstellungspraxis seitens der Bundesregierung unbeanstandet blieb.

Die aktuelle Klage gegen die Rückstellungspraxis beim EuGH

Im Gegensatz dazu haben die Stadtwerke Schwäbisch Hall zusammen mit weiteren deutschen Stadtwerken zunächst eine Beschwerde wegen der damit gegebenen Wettbewerbsverzerrung beim seinerzeitigen EU-Wettbewerbskommissar Monti eingelegt. Dem lag die Erfahrung zugrunde, dass die deutschen Atomkraftwerksbetreiber – die heutigen vier Stromkonzerne E.ON, RWE, Energie Baden-Württemberg (EnBW) und Vattenfall Europe – durch die steuerfreien Rückstellungen, die steuerfreie Gewinne im aktuellen Wettbewerb darstellen, einen einzigartigen Wettbewerbsvorteil haben, und dass sie überdies mit diesen den Aufkauf von kommunalen Versorgungsunternehmen praktizieren.
 
Der frühere EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti schloss sich nach anfänglichem Zögern dieser Auffassung an, ohne dafür eine Mehrheit in der EUKommission zu bekommen. Die seinerzeitige Energiekommissarin Loyola de Palacio startete jedoch Ende 2002 einen Vorstoß, demzufolge sie allen EU-Ländern mit Atomkraftwerken auferlegen wollte, statt steuerfreier Rückstellungen einen Rücklagen-Fonds zu bilden. Dieser Vorstoß kam bisher nicht zum Zuge, u.a. weil auch die deutsche Bundesregierung aufgrund des „Ausstiegskonsenses“ die Rückstellungspraxis verteidigte. Jedoch reichten die Stadtwerke Schwäbisch Hall eine Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein. Das Urteil steht in den nächsten Monaten an.

Diese Klage ist berechtigt. Die gegenwärtigen Rückstellungen liegen bei etwa 30 Mrd. Euro. Da sie beliebig verwendet werden dürfen, bedeutet das, dass die Geldbeträge in anderen Investitionsprojekten gebunden werden und „durch Fehlinvestitionen“ verloren gehen können. Hinzu kommt, dass mit der Liberalisierung des Strommarktes in der EU auch die Atomkraftwerksbetreiber selbst dem Konkursrisiko ausgesetzt sind – und somit die jeweiligen Rückstellungen insgesamt verloren gehen können. Wegen ihrer beliebigen Verwendbarkeit sind sie eine einseitige Beihilfe für die Atomkraftwerksbetreiber und erleichtern den Konzentrationsprozess in der Stromwirtschaft. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das schriftlich vorliegende Plädoyer der Rechtsanwältin Dr. Fouquet in der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof am 10. März 2005.

Die Laufzeitverlängerung macht steuerfreie Rückstellungen definitiv untragbar:

Die einzige politische Rechtfertigung, diese Rückstellungspraxis unangetastet zu lassen, ist die nahtlose Umsetzung des eingeleiteten Atomausstiegs. Wenn dieser künftig durch eine Laufzeitverlängerung auch nur ansatzweise in Frage gestellt würde, wird diese Rechtfertigung hinfällig – wenn sie nicht schon zuvor vom EuGH untersagt wird.

Die Verlängerung der Laufzeiten müsste gesetzlich beschlossen werden. Sie entspricht der erklärten Zielvorstellung der Union und der FDP. Sie wird von den Atomkraftwerksbetreibern erhofft und gilt als eine Art Eröffnungszug für eine langfristig angelegte Renaissance der Atomenergienutzung. Spätestens, wenn eine künftige Regierung diesen Schritt tun sollte, ist die bisherige politische Geschäftsgrundlage aufgekündigt, an der Rückstellungspraxis nicht zu rühren. Die zwingende Konsequenz daraus wäre, diese nicht nur beim EuGH, sondern auch beim Bundesgerichtshof, Bundesfinanzhof oder beim Bundesverfassungsgericht zu beklagen – je nachdem, ob es sich um einen Privatkläger oder einen öffentlichen Kläger (eine Landesregierung oder die Bundestagsfraktion der SPD und/oder der Grünen) handelt. Die nahe liegende und in jedem Fall einzig schlüssige Alternative ist ein Rückstellungs-Fonds. Ich denke – vor dem Hintergrund der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu Rückstellungen –, dass die Atomkraftwerksbetreiber dann keine Chance zur Fortführung ihrer Rückstellungspraxis mit ihren gigantischen Rückstellungssummen haben. Ihre Hoffnung, eine Laufzeitverlängerung ohne diese Konsequenz realisiert zu bekommen, dürfte sich als naiv und trügerisch erweisen.

Es sollte daneben nicht übersehen werden, dass die Rückstellungen für die atomare Entsorgung die Stromkunden in höherem Maße finanziell belasten als es die Mehrkosten für erneuerbare Energien gemäß dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) tun. Auch hierzu ist zu vermuten, dass die anhaltenden Versuche der Stromkonzerne, dagegen politisch und gerichtlich zu intervenieren und stattdessen wieder die Atomenergie in den Vordergrund zu spielen, spätestens im Erfolgsfall zur Beklagung der höchst fragwürdigen Atomrückstellungspraxis führen werden.