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taz120.gifArtikel erschien in der taz, 24. Januar 2008

Hermann Scheer will Superminister für Wirtschaft und Umwelt in Hessen werden.  Er hat es Andrea Ypsilanti versprochen. Von Peter Unfried

Kurz vor seiner Rede nahm ihn der Landrat beiseite. "Seien Sie bloß vorsichtig", sagte er, "wenn Sie auf die Windkraft zu sprechen kommen, Herr Scheer." Das sei in Nordhessen ein sehr heikles Thema. Jaja, brummte der, er wisse schon, wie er es angehen werde. Nämlich so:  

"Ich war überhaupt nicht vorsichtig", sagt Hermann Scheer. Gedonnert habe er, es habe "nicht mehr alle Tassen im Schrank", wer im Namen der Ästhetik oder des Umweltschutzes gegen emissionsfreie Stromerzeugung sei, während die Gletscher schmölzen, die Dürren und Stürme zunähmen und die Ursache dafür klar sei. Im Saal wurde es still. Dem Landrat fiel die Klappe runter.

Hermann Scheer sei "ein deutscher Politiker", heißt es bei Wikipedia. Das stimmt. Scheer ist seit 1980 einfacher SPD-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Waiblingen bei Stuttgart. Aber er ist auch Träger des Alternativen Nobelpreises und Präsident der Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energie, Eurosolar. Bei vielen, die sich mit der Lösung des Klima- und Energieproblems befassen, kommt er gleich nach dem inoffiziellen Weltklimapräsidenten Al Gore. Oder weit vor ihm.

Und nun will er bei entsprechendem Ausgang der hessischen Landtagswahl am Sonntag Superminister für Wirtschaft und Umwelt werden. In einem Kabinett, das von einer SPD-Ministerpräsidentin Andrea Ypsilanti geführt wird. Er ist der Mann, vor dessen Plänen der ehemalige SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement die Wähler gewarnt hat. Den der amtierende Ministerpräsident Roland Koch (CDU) seit Monaten mit Gutachten bekämpft. Am Mittwoch nannte er Scheers Pläne "unrealistisch und gefährlich". Die Strompreise würden sich verdoppeln - nur verdoppeln: Vor wenigen Wochen war Koch noch von einer Verdreifachung ausgegangen. Es sei immer noch eine "70fache Übertreibung", sagt Scheer. Wahlkampf halt.

An diesem Tag sitzt Hermann Scheer im üblichen Politikerlokal in Berlin-Mitte. Wenn er erzählt, lacht er oft ein vergnügtes Hihihi. Manchmal prustet er auch los. Das heißt dann, dass er sich richtig amüsiert. So wie jetzt bei der Landratgeschichte. "Als ich fertig war, gab es tosenden Beifall." Mit dem doppelten Espresso kommt die Moral der Geschichte. Dass die Energiewende in diesem Land nicht von den "Leuten" blockiert werde, sondern von denen, "die den Leuten immer erzählen, das ginge nicht". Dass man "nicht immer rumeiern" dürfe, sondern sagen müsse, was Sache sei. Die Leute seien bereit dafür.

Er ist 63, er hatte nie ein staatliches Amt inne. Aber wenn die Sache in Hessen wunschgemäß ausgeht, dann will er dort nicht nur die Atomkraftwerke Biblis I und II tatsächlich bis 2013 abschalten, sondern auch die Wende zu den erneuerbaren Energien schaffen. In seinem Programm kann man nachlesen, wie viele Windkrafträder, Blockheizkraftwerke oder Solaranlagen in einzelnen Kreisen und Städten gebaut werden müssen. Ob die Zahlen hinhauen, weiß man immer erst hinterher. Sicher ist, dass zum ersten Mal ein Politiker diese Wende so detailliert darstellt, dass jeder Laie sofort versteht, was der Unterschied zur CDU ist: Kreise, Kommunen und Bürger übernehmen auf der Grundlage einer neuen Landesgesetzgebung die Stromproduktion und damit die Macht - und die Rendite - von den vier großen Stromkonzernen RWE, Eon, EnBW und Vattenfall. Der umstrittene Neubau eines klimaschädlichen Kohlekraftwerks bei Hanau durch Eon wird dann nicht mehr benötigt.

Unglaublich? Es zweifeln nicht nur Exwirtschaftspolitiker wie Clement oder amtierende CDU-Ministerpräsidenten. Es gibt auch Gemeinderäte und Bürgerinitiativen, die trotz Endlichkeit fossiler Rohstoffe, Erderwärmung, Klima-Völkerwanderung und Ölkriegen zwar Windräder wollen, aber keinesfalls in ihrer Gemeinde. Und vor allem ist da die SPD, die zwar den Bundesumweltminister stellt, aber jenseits von Scheer nicht für moderne Energiepolitik bekannt ist.

Den "Lonesome Cowboy der SPD" nennt ihn ein Spitzenpolitiker einer anderen Partei im Hintergrundgespräch. Er fragt: "Was verbindet denn die SPD im Schwalm-Eder-Kreis mit Hermann Scheer?" Der Schwalm-Eder-Kreis ist eine SPD-Hochburg in Nordhessen, die Region ist mit 26.000 Mitgliedern eine Macht und muss nach Focus- und anderen Gerüchten regelmäßig erklären, dass sie zu Scheer, Ypsilanti und den erneuerbaren Energien als Jobmotor für Nordhessen steht. Bitte: Scheer war da und es gebe, sagt SPD-Unterbezirks-Geschäftsführer Hans Gries, eine "hohe Übereinstimmung in grundsätzlichen energiepolitischen Fragen".

Ach ja, winkt ein grüner Spitzenpolitiker ab, in dezidiert rot-grünen Wahlkämpfen schiebe man den Parteiaußenseiter Scheer nach vorn. Aber eben nur bei Frauen wie Ypsilanti oder zuvor Ute Vogt bei der grandios verlorenen Landtagswahl in Baden-Württemberg. Scheer hingegen sagt, es sei allein die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti gewesen, die ihn gebeten habe, ein Energiekonzept zu verfassen. Und die dann zu ihm sagte: "Ich stehe voll dahinter, Hermann. Aber ich kann die Auseinandersetzung nicht allein führen."

Worauf er sagte: "Okay, ich bin dabei. Aber dann muss mans auch richtig machen." Worauf sie sagte: "Okay, dann legen wir Umwelt- und Wirtschaftsministerium zusammen."

"Das", sagt Scheer, diesmal mit feinem Hihihi, "gibts sonst nur bei der taz."

Beobachter argwöhnen, Scheer habe "die Ypsi" ganz offenbar "im Sack". Quatsch, sagt Scheer. "Die Andrea" sei von der Energiewende überzeugt. Er habe großen Respekt davor, dass sie das Konzept in allen Bezirken durchgepowert habe. Ypsilantis Entscheidung für Scheer trifft unter anderem Jürgen Walter, den Chef der ehemaligen Schröderianer in der Hessen-SPD. Der war der Schröder-Kritikerin im Kampf um die Spitzenkandidatur unterlegen und wäre vielleicht gern als Zeichen der innerparteilichen Versöhnung designierter Wirtschafts- oder gar "Superminister" geworden statt nur Innenminister.

Und sie trifft den potenziellen Koalitionspartner Grüne, der das Umweltministerium als naturgemäß den Grünen zustehend betrachtet. "Es gibt keine rot-grüne Koalition ohne grünen Umweltminister", sagt Fraktions- und Parteichef Tarek Al-Wazir auf Nachfrage. Nein? Daniel Cohn-Bendit, Chef der EU-Grünen mit Wohnsitz Frankfurt, hat in der taz vorgeschlagen, man könne ja ein Team aus Doppelminister Scheer und zwei grünen Staatssekretären bilden. Das sei "denkbar", sagt Scheer. Ansonsten gilt: Ganz oder gar nicht.

Hermann Scheer ist Jahrgang 1944 und ein echter Achtundsechziger. "Ich habe nie Autoritäten akzeptiert", sagt er, "jedenfalls keine formalen. Inhaltlich begründete dagegen akzeptiere ich total." Ach. Wen denn? Automechaniker. Und Sloterdijk. Eigentlich sollte er ein einfacher SPD-Außenminister werden, Egon Bahr förderte ihn, Scheer leitete als sein Nachfolger den Unterausschuss für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Aber die Atomausstiegsdebatte der 80er war ihm immer zu kurz gedacht. Weil sie "die Schlüsselfrage" nicht beantwortete: "die nichtfossile Alternative". Was ersetzt Atomenergie? Er fing an, sich seine "eigenen Gedanken" zu machen und entwickelte seine "Doppelstrategie", baute mit seiner Frau Irm Pontenagel Eurosolar auf und gab dann Anfang der 90er seine Funktion im Ausschuss und damit seine Parteikarriere auf.

Seither arbeitet er an der Lösung der Energiefrage. Aber trotz gestiegenen Problembewusstseins für die Auswirkungen des Klimawandels wird weiter taktiert, blockiert, Blabla geredet. Gerade in der SPD. Den Talkshows gilt der Neueinsteiger Sigmar Gabriel als Experte und Klimaschützer.

Wie er das im Kopf aushält? Die Frage liebt er. "Mein Grund, in die Politik zu gehen, war ja, dass ich die Rolle des Zuschauers nicht aushalten würde. Deshalb stelle ich die Gegenfrage: Wie hältst du das aus, untätig danebenzustehen?" Scheer greift ja ein. 2000 hat er das Erneuerbare-Energien-Gesetz durchgebracht. Es sollte den Anteil der Ökoenergien am deutschen Strommix bis 2020 auf mindestens 20 Prozent erhöhen. Das "mindestens" hat Scheer reingedrückt, als die anderen das Gesetz noch für illusionär hielten. Schröder hatte damals gerade anderes zu tun. Als dann die Energiekonzerne beim Kanzler Dampf machen wollten, war es zu spät. Seit 2007 ist man bei 15 Prozent, Scheer denkt, dass die 20 Prozent bereits 2011 erreicht sein werden.

An einem Donnerstag in der zweiten Januarhälfte ist Scheer Stargast beim Neujahrsempfang der Kasseler SPD. Die Brian Scotty Wilson Band spielt "Black Magic Woman". Knapp hundert Leute sind gekommen. Die meisten sind über fünfzig, tragen graue Anzüge und werden vom örtlichen SPD-Vorsitzenden Dr. Bernd Hoppe namentlich begrüßt. Neben dem Rednerpult hängt ein Wahlplakat mit dem Hammerslogan: "Die Zeit ist reif." Dr. Hoppe leiert ein bisschen Peptalk zum Thema desaströse Bildungspolitik der Koch-CDU vom Blatt und beklagt, dass "fast kein Akademikerkind studiert". - "Arbeiterkind!", ruft es aus dem Saal. Das sollte jenen zu denken geben, die argwöhnen, dass in dieser Partei kein Leben mehr ist.

Und dann kommt Scheer. Weil er so leise redet, wird es auch im Saal still. Eine geschlagene Viertelstunde unterbricht ihn kein Beifall, kein Zwischenruf, kein nichts. Es ist wahrscheinlich die intellektuellste Basta-Rede, die man je gehört hat. Er redet weder über Koch noch über die Klimakatastrophe als "größte moralische Herausforderung der Menschheit" wie Al Gore. Am Ende hat er die Schröder-Jahre überwunden, ohne den Namen des ehemaligen SPD-Kanzlers zu erwähnen. Er hat einen sozialdemokratischen Entwurf der globalen Zukunft der Gesellschaft rausgehauen, hat Sonne und Wind für die SPD reklamiert - als "einzige sozialdemokratische Energiequellen, die diesen Namen verdienen".

Na, die hat er aber auch gut drauf, diese Rede, oder? Nee, nee, sagt Scheer später. Er halte nie dieselbe Rede. Weil er niemanden langweilen will, vor allem sich selbst nicht. Sein Fahrer stoppt jedes Mal die Zeit: 86 Minuten dauerte die Rede von Kassel. Die längste hielt er im Odenwald, 103 Minuten.

Bescheiden kann man Scheer sicher nicht nennen. Seine intellektuellen Möglichkeiten aber auch nicht. Und man trifft selten einen, der so offen redet wie er - und der dabei komplett unzynisch wirkt. Wird er tatsächlich in Wiesbaden einreiten im Fall des Falles? "Der Hermann", sagen Nichtwohlmeinende, reise doch lieber nach Kalifornien und belehre Gouverneur Schwarzenegger, als im Landtag rumzusitzen. Dem sei doch "himmelangst" davor.

Er sei sicher, dass es einigen "himmelangst" sei, meint Scheer. Ihm nicht. "Wenn wir das so machen wie geplant, dann ist das der nächste Durchbruch, um tatsächlich den breiten Ausbau erneuerbarer Energien zu ermöglichen. Also muss ich das dann auch tun." 26 Termine hat er bereits geplant, bei denen er den 26 Kreisverwaltungen nach einem Wahlsieg erklären wird, welche wirtschaftlichen Vorteile eine eigenverantwortliche Energieversorgung hat.

Sie wollen zeigen, dass es tatsächlich geht? "Es geht", sagt Hermann Scheer knapp. Er sagt seit vielen Jahren, dass es geht. Aber er war noch nie so nah dran, es beweisen zu müssen.

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