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trott-war.gifTrottwar – Die Straßenzeitung im Südwesten, Ausgabe 5 / 2007

Von Annette Clauß. Er ist 250 Tage im Jahr unterwegs und kann sich mit seinen 63 Jahren vieles vorstellen – nur eines nicht: in Pension zu gehen. Denn Dr. Hermann Scheer, Präsident der europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energien (Eurosolar) und unter anderem Träger des alternativen Nobelpreises, ist ein unermüdlicher Streiter für die Sonnen-, Wind- und Wasserenergie. Und ein „Possibilist“: Ich denke an die Möglichkeiten, wie man aus Problemen rauskommt.“ Die Energie der Zukunft? Keine Frage – „das sind die erneuerbaren Energien“, sagt Dr. Hermann Scheer voller Überzeugung. Vor allem die Sonnen- und die Windenergie: „Sie haben das größte Potenzial, weil sie überall vorhanden sind und mit geringem technischen Aufwand genutzt werden können.“ Eine Windkraftanlage zum Beispiel könnte ruckzuck aufgebaut sein und in Betrieb gehen – wäre da nicht das Problem mit der Standortgenehmigung. „Es ist immer noch einfacher, eine Kohleverfeuerungsanlage oder eine Gasanlage genehmigt zu bekommen, als eine Windkraft- oder Kleinwasseranlage.“ Bundesländer, die auf die Atomkraft setzen, wie etwa Baden-Württemberg, seien bei der Vergabe von Standortgenehmigungen besonders restriktiv.

Die bürokratischen Hindernisse und Vorbehalte gerade gegen die Windkraft „sind außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit“, findet Scheer: „Das hat schon kafkaeske Züge.“ Dahinter stecke politisches Kalkül. Denn dass in den erneuerbaren Energien die Zukunft liegt, kann nach Scheers Ansicht niemand ernsthaft bestreiten. Schon allein deshalb nicht, weil die anderen Energieträger irgendwann zur Neige gehen. Völlig emissionsfrei sind die erneuerbaren Energien obendrein. Und trotzdem: „Da wird das letzte Haar in der Suppe gesucht, um Windkraft zu vermeiden.“

Das beliebte Argument, Windkraftanlagen seien hässlich und verschandelten die Landschaft, entkräftet der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler mit einem Satz: „Man muss Windkraftanlagen nicht schön finden, es reicht, wenn man sie für nötig hält.“ Ganz abgesehen davon, dass etwa ein Kohlekraftwerk auch keine Augenweide sei. Und der Landschaftsschutz? Hermann Scheer greift sich an den Kopf: „Wenn durch fossile Emission und Klimawandel Gletscher schmelzen, Wälder sterben, Gewässer übersäuern und Dürren eintreten – dann sind das Landschaftseingriffe außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit.“ Auch das Argument Elektrosmog bringt Scheer zum Schmunzeln: „Wir haben heute in Deutschland 19.600 Windkraftanlagen, aber 80.000 Richtfunkanlagen – da gibt’s wirklich Elektrosmog.“

In 25 Jahren könnte Deutschland seinen Strom komplett aus erneuerbaren Energien beziehen, sagt Scheer: „Das hat mir von Angesicht zu Angesicht noch keiner widerlegen können.“ Heute lieferten Atomkraftwerke 26Prozent des Stroms, die Windenergie allein macht schon sieben Prozent aus. Würden die vorhandenen Ein-Megawatt-Anlagen zu 2,5-Megawatt-Anlagen aufgestockt, ließe sich so das Dreifache an Strom erzeugen: „Das wären dann schon 21Prozent.“ Und hätten alle Bundesländer dieselben Genehmigungskriterien wie Sachsen-Anhalt, „wären wir jetzt schon bei 14Prozent. Das macht mal drei 42Prozent.“

Dass die Stromwirtschaft sich querstellt, wundert Scheer nicht: „Denen schwimmen die Felle weg.“ Was den 63jährigen SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem Rems-Murr-Kreis wütend macht, sind die vielen Politiker, die „denen nachschwätzen, ihre fadenscheinigen Argumente wiederholen und sich vorführen lassen“. Und dann wären da noch die Medien, die „bei jeder Energiekrise ausgerechnet die Stromkonzerne als Erste dazu interviewen, was zu tun sei“. Das sei doch eigentlich ungeheuerlich und ungefähr so, „als würde man nach einem Banküberfall den Bandenchef fragen, was die beste Methode der Verbrechensbekämpfung ist“, sagt Scheer, lacht und schüttelt den Kopf.

Als er 1964 in Berlin sein Abitur machte, hatte er keine Lust zu studieren: „Ich war froh, dass ich die Schule hinter mir hatte.“ Zwei Berufe konnte sich der mehrfache Berliner Jugend-Schwimmmeister, der nie einen Bürojob mit geregeltem Tagesablauf machen wollte, vorstellen: Sportjournalist oder Berufsoffizier. Er entschied sich für letzteren, ging als Offiziersanwärter nach Hannover und wurde bei der Bundeswehr zum überzeugten Atomwaffengegner. Dass er sich beim Kommando „Atomschlag von rechts“ nach links in den Graben werfen und mit einer Plastikplane gegen radioaktive Strahlung schützen sollte, erschien ihm gar zu absurd. Er verließ die Bundeswehr nach drei Jahren: „Aber ich bin immer noch militant in der Verfolgung meiner Ziele.“

Das Thema Atomkraft hat ihn seitdem begleitet. Nach seinem Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Heidelberg arbeitete Scheer unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kernforschungszentrum Karlsruhe. Im Jahr 1980 zog er für die SPD in den Bundestag, war Sprecher der Bundestagsfraktion für Abrüstung und Vorsitzender des Unterausschusses Abrüstung und Rüstungskontrolle des Bundestags. Bei der Arbeit an seinem Buch „Die Befreiung von der Bombe“ stieß er 1986 auf die erneuerbaren Energien als Alternative zur riskanten Atomkraft und zu den endlichen Energieträgern Kohle, Gas und Öl. Seither rührt er die Werbetrommel für Sonne, Wasser und Wind, hat über 100 Länder bereist und das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit auf den Weg gebracht, das den Bau von Fotovoltaikanlagen förderte.

Sein unermüdlicher Einsatz für die erneuerbaren Energien ist eine Lebensaufgabe – das weiß Hermann Scheer nur zu gut. Und ist wohl auch ein bisschen froh darüber, denn: „Ich fühle mich in keiner Weise pensionsfähig.“ Klar, seine Arbeit ist anstrengend, verlangt ihm jede Menge Energie ab. Noch viel anstrengender aber ist es für Hermann Scheer „untätig zu sein angesichts dessen, was falsch läuft.“

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