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Artikel erschienen in Kölner Stadt-Anzeiger, 25. September 2006

Pulheim - Diesmal ist es umgekehrt. Diesmal sind es nicht die Umweltschützer, die protestieren, sondern die Mitarbeiter des RWE-Kraftwerks Niederaußem, allen voran der Vorsitzende des Betriebsrats, Harald Könen. „Moderne Kraftwerke - bester Umweltschutz“, steht etwa auf einem der Transparente, das die Kraftwerker hoch halten. Die Menschen, die an ihnen vorbei in den Köster-Saal zur Tagung des Aktionsbündnisses „Zukunft statt Braunkohle“ drängen, sind anderer Meinung. Für sie steht fest: Es geht ohne die klimaschädliche Braunkohle - mit Sonne, Wind, Wasser, Biomasse, Erdwärme und Gaskraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung.

Der erste Redner ist Bürgermeister Dr. Karl August Morisse. Und die Zuhörer merken gleich, dass er hier keinen Pflichttermin absolviert. Er wisse nicht, ob „die deprimierende Prognose“, Braunkohle sei unverzichtbar, richtig sei, oder ob andere mit ihrer Behauptung richtig lägen, dass es preiswertere und umweltfreundlichere Alternativen gebe. „Was mit Sicherheit feststeht ist, dass wir die Zukunft vorsätzlich veruntreuen, wenn wir klimaschädliche Strukturen schon jetzt für vier Jahrzehnte und mehr zementieren und damit darauf verzichten, für alternative Entwicklungen Raum zu lassen, sie zu fördern und vom Entwicklungsfortschritt der nächsten 40 Jahre zu profitieren“, rief er den mehreren hundert Besuchern des Bürgerforums in seinem Grußwort zu und erntete dafür lange anhaltenden Applaus.

Der bereits begonnene Bau eines neuen Braunkohlekraftwerks in Grevenbroich-Neurath, der Aufschluss des Braunkohlentagebaus Garzweiler II und die Pläne des Unternehmens RWE Power zum Bau weiterer Kraftwerke haben nicht nur klassische Umweltschützer auf den Plan gerufen. Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, verschiedener Parteien, Alte wie Jugendliche, interessieren sich jetzt für den Schadstoffausstoß eines Braunkohlenkraftwerks. Bestseller-Autor Frank Schätzing (Der Schwarm) weiß aus seiner Jugend in Hürth wie es ist, im Schatten eines Kraftwerks und am Rande eines Tagebaus zu leben. Jetzt hat er die Schirmherrschaft der Veranstaltung übernommen. Aus gesundheitlichen Gründen ist er zwar nicht in Pulheim, lässt aber sein Grußwort verlesen und kommt zu dem Schluss, „dass es um nicht weniger als die Rettung unserer natürlichen Lebensgrundlagen geht.“

Mit dem TV-Journalisten und Publizisten Franz Alt sowie dem Präsidenten der Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energie (EUROSOLAR), dem SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer, gelingt es den Veranstaltern, zwei der bekanntesten Verfechter für eine Wende in der Energiepolitik zu gewinnen. Alt spricht vom „wichtigsten Thema der Weltpolitik“ und fordert die 100-prozentige Wende, weg von der Braunkohle, Atomstrom und Öl. Die regenerativen Energien reichten aus, wenn die Politik die Weichen richtig stelle. In anderen Ländern sei das möglich, so Alt. Er verwies insbesondere auf den etwa in Korea oder Taiwan boomenden Solarmarkt, von dem auch deutsche Firmen profitierten. Dort entstünden Arbeitsplätze, nicht in der Braunkohlenindustrie.

Hermann Scheer, Träger des alternativen Nobelpreises, ist in vielen seiner Bücher der Frage nachgegangen, warum selbst Wissenschaftler - gegen besseres Wissen, wie er meint - die Möglichkeit von Alternativen bestreiten. „Das eigentliche Problem ist kein technologisches, kein wirtschaftliches, sondern liegt in der Fortschreibung des jetzigen Energiesystems.“ In den bestehenden Strukturen sei eine Veränderung nämlich nicht möglich. Regenerative Energienutzung müsse dezentral organisiert werden - ohne Großkraftwerke und riesige Tagebaue, sondern in kleinen Einheiten, mit Solarzellen auf Hausdächern, Biogasanlagen und Wärmepumpen.

Die vielen Diskussionen am Rande der Veranstaltung zeigen, dass die Sorge um die Veränderung des Weltklimas die Menschen umtreibt. Es sei allerhöchste Zeit, den Ausstoß von Kohlendioxid zu stoppen - vor allem durch das Verbrennen des klimaschädlichsten aller Brennstoffe, der Braunkohle, heißt es.

In zahlreichen stets gut besuchten Vorträgen gehen Experten vom Wuppertal-Institut, vom Max-Planck-Institut oder von den Naturschutzorganisationen, der Frage nach den Auswirkungen des Klimawandels nach. Fazit: Die Häufigkeit von Hochwassern und heftigen Stürmen nimmt zu.

Zum Ende des Tages verabschieden die Organisatoren unter starkem Beifall der Besucher das „Pulheimer Manifest für eine Energieversorgung ohne Braunkohle“. Zuvor noch bekennt sich der Kabarettist Jürgen Becker zu den Zielen und sorgt mit Ausschnitten aus seinem neuen Programm für Heiterkeit im Köster-Saal.

Das Aktionsbündnis „Zukunft statt Braunkohle“ vertritt inzwischen nach eigenen Angaben mehr als zwei Millionen Menschen. Gegründet wurde es von der Umweltschutzorganisation Greenpeace, dem nordrhein-westfälischen Landesverband des Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) sowie dem Aktionsbündnis Stommelner Bürger „Leben ohne BoA“ (Lob). An der Veranstaltung und am Rahmenprogramm beteiligten sich außerdem der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) sowie der Fotograf Dieter Müller-Henning mit seinen Fotografien aus Orten, die dem Tagebau Garzweiler II weichen mussten. Titel der Ausstellung: „Sterbende Dörfer“. (nk)

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