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Artikel erschienen in Süddeutsche Zeitung, 22. November 2005

 
Von Christian Schütze. Die Zeit wird ihm Recht geben, aber so lange will Hermann Scheer nicht warten. Er hat die Logik und die Tatsachen auf seiner Seite, aber das „atomar-fossile Energieversorgungssystem“ gegen sich. Zu dessen Ablösung durch „eine neue Politik für erneuerbare Energien“ ruft er mit bekannter Leidenschaft und intellektueller Durchschlagskraft auf. Alle einschlägigen internationalen Veranstaltungen seit der UNUmweltkonferenz von Stockholm 1972 und alle Aufrufe zum sparsamen Umgang mit den erschöpfbaren Energieressourcen haben den dramatischen Anstieg des Verbrauchs fossiler Brennstoffe und damit der CO2-Emissionen nicht gebremst. Dabei ist der Beitrag der erneuerbaren Energien absolut zwar auch gewachsen, relativ aber geringer geworden. Nach aller Lebenserfahrung sind Kohle, Öl, Gas und Uran, die verbrannt wurden, nicht mehr da.

Krisenzeichen in Form von Preissteigerungen und hektischen Angebotsschwankungen mehren sich, ebenso die Umweltschäden zwischen vergifteten Böden und gestörter Atmosphäre. Hermann Scheer erinnert an Wilhelm Ostwald, den Chemie-Nobelpreisträger von 1909, der von der „unverhofften Erbschaft der fossilen Brennmaterialien“ sprach, die dazu verleitet habe, „die Grundsätze einer dauerhaften Wirtschaft vorläufig aus dem Auge zu verlieren und in den Tag hinein zu leben“. Hundert Jahre später geht die Zeit des Prassens mit den Energiekonserven aus dem Vorratskeller der Erdgeschichte zwar langsam – aber sicher – zu Ende.

Da wäre es vernünftig, alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Kräfte zu mobilisieren, um die Erntetechniken für die erneuerbaren, von der Sonne noch vier Milliarden Jahre lang gespeisten Energieformen zu entwickeln. Stattdessen werde, so Scheer, die zum Absterben verurteilte traditionelle Energieversorgungsstruktur von den Großen der Öl- und Stromwirtschaft systematisch und von der Politik aus Gewohnheit eisern verteidigt. So genannte Realisten hielten die Öffentlichkeit in dem Glauben, dass es immer so weitergehen könne und müsse, weil die gegebene Struktur und das „gewachsene technische Weltbild“ ohne Alternative seien. Das Mantra laute: Die Erneuerbaren bringen nichts. Doch weil ihr Beitrag zur Energieversorgung stetig wachse, hätten die „Gefängniswärter des Systems“ zur Gegenreformation gegen die besonders in Deutschland erfolgreiche Politik zur Förderung erneuerbarer Energien geblasen.

Mit Horrorzahlen über deren angebliche Unwirtschaftlichkeit würden besonders die Photovoltaik und die Windmühlen madig gemacht, wobei sich auch publizistische Leitorgane wie Der Spiegel und die Frankfurter Allgemeine „ressentimentgeladen“ als Hilfswillige auszeichneten, neben – selbstverständlich – den neuen Öko-Optimisten, die als Öko-Opportunisten Bestseller schreiben mit der frohen Botschaft „Alles nicht so schlimm, Klimawandel eingebildet, Waldsterben erfunden“. Nebenbei: Auch Leserbriefschreiber wirken, angestiftet oder nicht, an der Kampagne mit: mit Polemiken gegen das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG), gegen „grüne Bretter vor dem Hirn“ bei der Energiebilanzierung der Photovoltaik, gegen den „EEG-Selbstbedienungsladen“ usw. Die zunehmende Schärfe der Auseinandersetzung kündigt die Nähe einer Richtungsentscheidung an.

Hermann Scheer, SPD-Mitglied des Bundestages, Präsident von Eurosolar, Träger des Alternativen Nobelpreises und vieler internationaler Ämter und Auszeichnungen für alternative Energien, sieht einen „Großkonflikt“ kommen und schildert in diesem Buch außerordentlich materialreich die Ausgangslage: auf der einen Seite die traditionell privilegierte Situation der herkömmlichen Energieträger und Nutzungstechniken, die jährlich 500 Milliarden Dollar weltweit an Subventionen erhalten, fünfzigmal so viel wie die erneuerbaren Energien. „Zweierlei Maß, das mit gespenstischer Selbstverständlichkeit akzeptiert wird. Die atomar-fossile Energieversorgung ist der größte Subventionsfall der Weltwirtschaftsgeschichte.“ Es sind Subventionen zum Ausgleich steigender Förderkosten bei schwindenden Reserven, aber auch Steuerbefreiungen für Flugbenzin (Obst aus Neuseeland) oder Schiffstreibstoff (Ölteppiche auf allen Ozeanen). Scheer erinnert daran, dass die Energienutzung die wichtigste Quelle globaler Umweltschäden ist.

Auf der anderen Seite die Geringschätzung der erneuerbaren Energien („bringen auf absehbare Zeit nur einen marginalen Beitrag“) und die finanzielle und politische Vernachlässigung der Techniken zu ihrer Nutzung; wenn sie gefördert wurden und Erfolg hatten, geschah es fast immer durch private Initiativen. Scheer fordert „Waffengleichheit“.

Während die Internationale Atomenergieagentur zig Seminare und Konferenzen zugunsten der Atomenergie veranstalte, fehle eine internationale Agentur für erneuerbare Energien. Er hält nichts von UN-Vereinbarungen zur Energiepolitik; diese enthielten immer nur das Minimum des Möglichen und viel weniger als das Nötige. Auch das „hoch gelobte“ Kyoto-Abkommen stabilisiere nur das alte System, indem es umweltzerstörende und gesundheitsschädliche CO2-Emissionen mit „Verschmutzungsrechten“ handelbar mache und damit legitim.

Die erneuerbaren Energien sind keine freundlich geduldete kompatible Ergänzung im bestehenden Versorgungssystem, sondern sie verdrängen und ersetzen dieses. Der studierte Ökonom Scheer verspricht sich davon massenhaft Arbeitsplätze. Er erwartet einen „Super-Kondratjew“ (einen Wirtschaftsaufschwung wie nach den Erfindungen der Dampfmaschine, des Benzinmotors oder des Transistors entsprechend der Konjunkturwellenlehre des russischen Theoretikers Nikolai Kondratjew). Darüber hinaus, so der Politiker Scheer, führe die entschlossene Umrüstung auf regional und lokal genutzte erneuerbare Energieformen zur nationalen und individuellen Energieautonomie; sie befreie von der herkömmlichen Energiewirtschaft, die sich als „vierte Staatsgewalt“ fühle und „kulturelle Hegemonie“ beanspruche. Schließlich machten nur erneuerbare Energien immun gegen heraufziehende globale Versorgungsmonopole. So wird im Kampf um die zukünftige Energiepolitik auch über künftige Gesellschaftsformen entschieden, weil von Energie alles abhängt. Das ist banal, aber vergessen – oder verdrängt. Hermann Scheer ruft zum Streit. Den wird er mit diesem Buch bekommen.

Buch "Energieautonomie. Eine neue Politik für Erneuerbare Energien."