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Artikel erschienen in Die Zeit, 01. September 2005

Ein Vademecun für Techniker, Bürger und Zukunftsdenker: Hermann Scheers Buch zur Energiewende

Von Mathias Greffrath. Als Mitte des 18. Jahrhunderts die Wälder auf der Île de France für den Feuerholzbedarf der Metropole Paris abgeholzt wurden, plädierte die Grande Encyclopédie für einen radikalen Systemwechsel: die Umstellung auf die neue Energiequelle Kohle. "Es scheint mir", schrieb Denis Diderot, "dass mein Vorschlag nützlich ist, aber ich gebe zu, daß er einen großen Fehler hat. Er zieht eher die Interessen unserer Enkel in Betracht als unsere – und wir leben nun einmal in einem Zeitalter, in dem jedermann alles für sich tut und nichts für die Nachwelt."

Der Übergang zum Kohlezeitalter geschah nicht durch einen politischen Akt kollektiver Vernunft, sondern erst, als mit Tausenden von Dampfmaschinen – und Bergwerken – das Industriezeitalter anbrach. Einzelne, technische Pioniere und Venture-Kapitalisten gingen voran, der Staat baute die Infrastruktur, die feudalen Waldbesitzer gingen Bankrott, und in zehn Generationen veränderte der von fossiler Energie und Kapital getriebene Industrialismus die Welt.

Bis Mitte des Jahrhunderts scheint ein Systemwechsel möglich

Am Ende dieses Zeitalters drohen keine regionalen Katastrophen, sondern solche in globalem Maßstab. In seinem Buch Solare Weltwirtschaft (1999) hat Hermann Scheer, SPD-Parlamentarier, Träger des Alternativen Nobelpreises und Gründer von Eurosolar (einer Vereinigung von Wissenschaftlern, Politikern und Bürgern, die mit Analysen, Kongressen, Handlungsvorschlägen für einen vollständigen Wechsel zu erneuerbaren Energien eintritt), die geophysikalischen Schranken der fossilen Epoche umrissen und die Gefahren des Weitermachens skizziert: Energie- und Rohstoffkrisen, wachsende Abhängigkeit der Staaten von transnationalen Energiemonopolisten, auf Dauer gestellte Unterentwicklung der Dritten Welt, Kriege. Schon heute sind für die USA die militärischen Kosten der Ölwirtschaft am Persischen Golf sechsmal so hoch wie der Preis des importierten Öls.

Das alles wissen wir und einiges seit dem Club of Rome und Dennis Meadows Grenzen des Wachstums, aber die »Koalition der Weitermacher« ist bis heute stärker, als es alle Gutachten, alle Absichtserklärungen von Regierungen, G8-Gipfeln, EU-Kommissionen sind. Trotz Tschernobyl und Ölkrise stieg der Weltenergieverbrauch seit 1973 um 70, der Anteil der erneuerbaren Energien blieb konstant bei 14 Prozent. Das Kyoto-Abkommen führte den Handel mit Verschmutzungsrechten ein, statt den Durchbruch zu einer solaren Zivilisation zu initiieren. Die Projektionen der globalen Atomlobby sehen bis 2050 eine Vervierfachung der AKWs vor, Technokraten träumen von der Patentlösung einer hyperzentralisierten – und atomar betriebenen – Wasserstoffwirtschaft.

Scheers neues Buch spitzt die Alternative zu: Die Energiewirtschaft der näheren Zukunft wird sich zur transnationalen Herrschaft eines Öl-Strom-Atom-Wasserstoff-Kartells über Staaten und Gesellschaften auswachsen, mit katastrophalen Folgen für Umwelt, Lebenschancen und Demokratie – wenn die Energiepolitik sich nicht zu einem forcierten, vollständigen Übergang zu erneuerbaren Energien innerhalb der nächsten 50 Jahre entschließt. »Erneuerbare Energie kann die Energiebedürfnisse der Menschen befriedigen«, schreibt Scheer, und er rechnet in seinem Plädoyer für »Energie-Autonomie« – gestützt auf eine Vielzahl einschlägiger Untersuchungen – noch einmal akribisch vor, dass der Systemwechsel bis Mitte des Jahrhunderts möglich ist. Allerdings nur, wenn begriffen wird, dass erneuerbare Energie »ein anderes, in vielfacher Hinsicht unterschiedliches ›Produkt‹ als das der konventionellen (ist)«, dass es nicht möglich ist, Kohle und Öl umstandslos durch andere Energie»quellen« wie Wind und Sonne zu ersetzen und alles andere – Übertragungsnetze und Großanlagen – so zu lassen, wie es ist.

Die Energien der nachfossilen Welt – Wind, Sonne, Wasser, Biomasse – »funktionieren« nicht in den konventionellen Strukturen von Großkraftwerken und transnationalen Netzen, sondern sind gebunden an regionale Wirtschaftskreisläufe – und stärken diese. Sie erfordern keine großtechnischen Zentralen und kontinentalen Netze, sondern eine komplexe Kombinaton verschiedener Technologien: von Solarzellen bis zu wärmedämmendem Bauen, von Windgeneratoren bis Biosprit. Sie werden sich an den regionalen klimatischen Besonderheiten und Rohstoffen ausrichten – und damit dezentral und »multikulturell« sein, von den Energiequellen bis zur Architektur.

Scheers Buch ist eine wissenschaftlich fundierte politische Programmschrift. Sie rechnet akribisch die Machbarkeit der Energiewende vor, sie arbeitet sich Kapitel für Kapitel an den Gegenargumenten der Energiekonservativen ab, sie formuliert eine kämpferische Aufforderung an die Träger der industriellen Demokratie, gegen die fossile Betriebswirtschaft der Energiekonzerne ihre »unveräußerliche politische Grundaufgabe« zu behaupten: die lebensnotwendige Energieversorgung der Bürger nachhaltig sicherzustellen. Das setzt eine Rückkehr zu einer volkswirtschaftlichen Bilanzierung voraus, die auch die langfristigen, ökologischen und arbeitsmarktrelevanten Effekte des Energie-Systems mitrechnet; es zielt auf aktivierende Gesetzgebung, die dem Neuen zumindest Chancengleichheit einräumt – statt wie bisher 96 Prozent der Subventionen in die Gewinnung fossiler Energien zu stecken.

Anlass und Auftakt des Buches ist eine Erfolgsgeschichte – zum Zeitpunkt ihrer Gefährdung. Deutschland stellt heute 35 Prozent der weltweiten Windenergieproduktion, zusammen mit Spanien ist es Vorreiter bei solaren Techniken. Angestoßen durch das – von Scheer initiierte – Energie-Einspeisungs-Gesetz, wurden in fünf Jahren sieben Prozent der Stromerzeugung in Deutschland von fossil auf erneuerbar umgestellt; die Investitionen in Wind und Sonne werden, bei gleichbleibendem Tempo, bis 2010 fast doppelt so hoch sein wie die der fossilen Stromproduzenten. In wenigen Jahren sind 130000 Arbeitsplätze entstanden. Diese wachsende Konkurrenz bedroht das Oligopol der vier großen Energieversorger (RWE, E.on, Vattenfall und ENBW), und damit steigt die Gefahr eines fossil-atomaren Roll-backs. Einen Tag nach der Ankündigung von Neuwahlen stiegen die E.on-Aktien um 4 Prozent, die von Solarworld fielen um sieben – die Union hatte für den Fall ihres Wahlsieges eine »Überprüfung« der Energiepolitik angesagt, zugunsten der Konzerne, die statt der garantierten Einspeisungsvergütung für Wind-, Sonnen- und Biostrom nun eine Einspeisungsquote fordern – in der Sache eine Schutzquote, um den Strommarkt in der Hand zu behalten.

Systematisch und mit Blick über die Grenzen analysiert Scheer Kapitel für Kapitel die technischen, politischen und ökonomischen »Handlungsblockaden«, die einen zügigen Systemwechsel behindern: von den »liberalisierten Energiemärkten« und den Netzmonopolen über die – subventionierten und teuer erkauften – Preisvorteile konventioneller Energie bis zum »Realismus« der kleinen Schritte, d.h. dem halbherzigen »Ausstieg« aus der fossilen Energie, dem kein kräftiger Einstieg in die erneuerbare folgte – und der verkennt, dass zwei fundamental verschiedene Energiesysteme nicht vereinbar und nicht zu finanzieren sind.

Nicht warten, bis der letzte Tropfen Öl verbrannt ist

Und nicht zuletzt: unser aller Beharrungsvermögen. Gemessen an Kosten und Vernunft, appelliert Scheer, müsste es nicht nur 30000 Solarzellen-Anlagen in Deutschland geben, sondern die zehnfache Anzahl, müssten Millionen von Autofahrern auf Ökodiesel umgestiegen sein. Drei Viertel der Deutschen sympathisieren stark mit Sonne, Wind und Wasserenergie. Aber sie verhalten sich nicht so, trotz aller Informationen – nicht nur aus Trägheit, sondern weil die Energiepolitik schlingert und keine stabilen Rahmenvorgaben für den großen Wechsel wagt. Und das könnte fatal sein.

Denn anders als der letzte energetische Epochenwechsel wird dieser nicht von wenigen Pionieren, einer zentralen Technik und außerordentlichen Bereicherungschancen angetrieben; er ist abhängig von vielen einzelnen Initiativen und einer Gesetzgebung, die ihnen Raum gibt – gegen eine bis auf weiteres »funktionierende« Energiewirtschaft, die technischen Optimismus verbreitet. »Das größte Problem in Europa«, erklärt der luxemburgische EU-Abgeordnete Turmes, »ist es, dass wir sieben Stromerzeuger haben, die … 70 Prozent des europäischen Netzes kontrollieren. Diese Menschen, die auf Kohle- und Atomkraftanlagen sitzen, werden nicht einfach einen Wechsel hin zu erneuerbaren Energien erlauben.« In einer Unternehmensstruktur, die Rohstoffe, Energieproduktion und Netze besitzt, bleiben sie ein Fremdkörper.

Wo immer es Fortschritte in der Energiegesetzgebung gab, zeigt Scheers Rückblick auf drei Jahrzehnte, kamen sie durch Bürgergruppen, passionierte Unternehmer, die nicht auf schnelle Profite setzten, zustande – und durch Volksvertretungen. Das deutsche Einspeisungsgesetz ebenso wie alle EU-Initiativen wurden von Parlamentariern durchgesetzt, gegen die Lobby und die Klagen der Stromwirtschaft. Eine epochale Energiewende ist also auch eine Überlebensprobe für das Funktionieren demokratischer Prozeduren – und einer aufgeklärten Öffentlichkeit, die den Druck auf die Politik steigert, statt immer noch (wie Scheer es an journalistischen Fehlleistungen von FAZ und Spiegel demonstriert) die einfachsten physikalischen Erkenntnisse zu negieren, die sich im ästhetizistischen Ekel gegen Windräder verliert, statt die aufregende Schönheit etwa der Solarzelle – »ein größeres technisches Wunderwerk als die Atomenergie« – unter der Kruste gewohnter Bequemlichkeit zu sehen.

So logisch und zukunftsoptimistisch Ingenieurphysik und Ökologie beweisen, dass die Zukunft dezentral und autonom werden muss und kann, so realistisch ist leider die Annahme, dass das investierte Kapital die zentralisierten Systeme zu erhalten trachtet, bis der letzte Tropfen Öl verbrannt und das letzte Uran-Atom gespalten ist. Und so meldet sich der unangenehme Gedanke, dass praktische Wahrheiten nicht durch Argumente entschieden werden, sondern durch das Kräfteverhältnis der Streitenden, und dass der Systemwechsel nicht so sehr eine technische als vielmehr eine politische Herausforderung ist. Die solare Koalition, die Scheer skizziert – aus Politikern, die an der Energie-Souveränität der Bürger, Konservativen, die an der Bewahrung der Natur interessiert sind, aus Kirchen, Anlagenbauern, einer weitblickenden Autoindustrie, Informationstechnikern, Bauunternehmern, Kommunen und Landwirten –, existiert »an sich«. Und die Solar-Plädoyers des Bauernverbandes, der eine Zukunft für Energiewirte sieht, der Bau-Gewerkschaft, die vom ökologischen Umbau spricht, des Maschinenbau-Verbandes VDMA, der vom Anlagenbau Arbeit und Wachstum erwartet, zeigen, dass wir über das Stadium der Solar-Utopie weit hinaus sind. Ein zügiger Fortschritt aber braucht kraftvolle staatliche Rahmengesetze, Anstoßfinanzierungen, best practice-Verordnungen, Grenzwerte – und das heißt: eine politische Grundentscheidung für den solaren Weg, die stabile Randbedingungen und kräftige Markierungen für den Weg aus der zentralistischen Versorgungsstruktur in die nachhaltige Vielfalt der Energien setzt – und den Konflikt mit etablierten Interessen wagt.

Energie-Autonomie ist nicht zuletzt eine Frage der Friedenspolitik

Und deshalb sind die Fragen, die bei der Lektüre dieser unverdrossenen solaren Aufklärungsschrift offen bleiben – ob die Euphorie über die Möglichkeiten und Schönheiten eines kommenden Solarzeitalters in allen Einzelheiten berechenbar ist; ob es nicht vermessen ist, anzunehmen, dass eine Wende in der hier skizzierten Größenordnung gelingen kann, ohne das große Energiekapital einzubinden; ob sie nur gelingen kann, wenn man die Stromnetze wieder, wie in Holland und Schweden, vergesellschaftet – nur in der politischen Arena zu beantworten und mit Sicherheit nicht nur von den Energiepolitikern. Ebenso wie die andere Frage, ob nicht, wie Scheer am Schluss fordert, ein europäisches Crash-Programm für Energie-Autonomie die ersehnte lang anhaltende, (»kondratieffsche«) Konjunkturwelle für Europa bringen könnte – wenn es sich denn entschlösse, zum globalen Vorreiter der solaren Weltwirtschaft zu werden: mit neuen Produktionszweigen, die Arbeitsplätze schaffen und Binnenmärkte mobilisieren, mit einem groß angelegten Übergang zur Energiepflanzenproduktion, die der Landwirtschaft – vor allem in Osteuropa – eine neue Rolle geben könnte, mit einer Strategie der Energie-Autonomie, die – mit dem Blick auf die Ölkrise – nicht zuletzt Friedenspolitik wäre.

Wer hier prognostizieren will, sei an die Brechtsche Maxime erinnert, dass gesellschaftliche Prognosen immer auch mitberechnen müssen, wie der Prognostizierende sich verhalten will. Und dabei könnte es entscheidend sein, ob ausreichend viele gegen die »Philosophie unseres Zeitalters« über »die Zukunft unserer Enkel nachdenken«. Die Hindernisse sind »enorm«, schreibt Scheer, im unbeirrbaren Optimismus des Handelnden. Die erkannten Notwendigkeiten sind es auch, und so ist Scheers Buch eine »Encyclopédie« und ein politisches Vademecum für Techniker, Politiker, Bürger und Zukunftsfreunde aller Professionen.

Buch "Energieautonomie. Eine neue Politik für Erneuerbare Energien."