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Artikel erschienen in Joachim Bücheler (Hg.): Praktische Visionen - Festschrift zum 60. Geburtstag von Hermann Scheer, April 2004

von Sigrid Henke

Die Zeitschrift Geo setzte sich in ihrem Heft 9/2003 mit der Species des Homo creativus auseinander. Am Anfang stehe die Frage nach der Definition von Kreativität. Momentaufnahmen berühmter Geistesblitze seien der Nachwelt überliefert. Archimedes sitzt in der Badewanne, als ihm die Theorie zur Wasserverdrängung einfällt und er sein legendäres „Heureka" ausstößt. Einstein reist in Gedanken auf einem Lichtstrahl, ehe er die Relativitätstheorie ersinnt. Kekule starrt ins Feuer, nickt ein und sieht Atome wirbeln und begreift die chemische Ringstruktur des Benzols. Solch plötzlichen Offenbarungen gehe oft fast körperlich spürbare Mühsal voraus. Inkubationsphase nennen Kenner das Gären vor dem Heureka. Intelligenztests erfordern „konvergentes" Denken. Im Unterschied dazu ersann der amerikanische Psychologe Joy Paul Guilford, Pionier der Kreativitätsforschung in den USA, den Begriff „divergent" für kreatives Denken. Kriterien des divergenten Denkens sind: Ideenflüssigkeit, Ideenvielfalt, Originalität, die Fähigkeit zur Elaboration, Problem-Sensitivität und Re-Definition, d.h. alte Fragen in neuem Licht zu sehen.

Als Beispiele eines Homo creativus der Gegenwart führen die Geo-Redakteure Eduard Fischer, den Erfinder der Dübel, Günter Gehl, Erfinder von Poetron, einem Computerprogramm mit dem man per Mausklick dichten, malen und komponieren kann, und Hermann Scheer auf. Hermann Scheer -so schreiben sie - ist nicht Physiker, nicht Erfinder, nicht Psychologe, sondern kreativer Politiker, Publizist und Initiator. Er mobilisiert seit Jahren Erneuerbare Energien als Schlüssel, um technischen Fortschritt mit Moral und Ökologie mit Ökonomie zu koppeln. Hinzu kommen neue Standortvorteile für die armen Länder im Süden, mehr Gerechtigkeit, weniger Hass, weniger Waffen, mehr Gesundheit, Wohlstand, Glück. Scheer selbst kämpft für seine sanfte Revolution im Deutschen Bundestag, im Bundesvorstand der SPD, in der Organisation EUROSOLAR, deren Präsident er ist. Die Machtverhältnisse sind ähnlich ungünstig wie bei seinen Vorbildern Robin Hood und Zorro: „Jede Entwicklung quer zum Mainstream stößt auf erbitterten Widerstand". Was tun? Überzeugen. Mit 200 Vorträgen pro Jahr, mit Büchern, mit der Zeitschrift „Das Solarzeitalter", mit Interviews, mit dem Image eines Trägers des alternativen Nobelpreises und des vom US-Magazin „Time" verliehenen Titels „Hero of the Green Century", mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz und dem 100.000-Dächer-Programm. Scheer baut auf eine Art globales Heureka, einen kollektiven Einsichtsschub.

Und was hat man von Hermann Scheer noch gehört, dass er sei? Vordenker, Querdenker, Visionär, Dickschädel, kein Parteiensoldat, Homo politicus, Einzelgänger, Überflieger, Solar-König, -Papst, -Fighter, genialer Chaot - so ein befreundeter ehemaliger Abgeordnetenkollege. Er selbst hat sich mir gegenüber einmal als ubiquitär bezeichnet.

Ich habe ihn 1980 kennen gelernt. Er war neu in den Bundestag gewählt worden und zog in das Büro ein, das neben meinem lag, in dem ich als wissenschaftliche Assistentin des damaligen Bundestagsabgeordneten Heinz Rapp arbeitete. Seine Mitarbeiterin Ute Quiring vermittelte allen Kollegen von Anfang an den Eindruck, in dem wichtigsten Büro der Etage für den bedeutendsten Abgeordneten des Bundestages zu arbeiten. Zunächst wurde er von den Bundeshausangestellten als arrogant wahrgenommen. Wenn er grüßte, geschah es herzlich und gewinnend, aber er grüßte nur selten und selektiv. Man wusste nie, ob er gerade Lust hatte zu grüßen oder lieber durch einen durchguckte. Ende 1986 ging Ute Quiring zu Agence France Press (AFP), um in ihrem erlernten Beruf als Journalistin zu arbeiten.

Da Heinz Rapp nicht wieder kandidierte und mein Arbeitsvertrag mit ihm dadurch auslief, bot Hermann Scheer mir an, für ihn zu arbeiten. Ich nahm das Angebot an, warnte ihn aber, dass ich möglicherweise nicht die Qualitäten meiner Vorgängerin aufzuweisen hätte. Er ging das Risiko ein. Ich habe 12 Jahre lang gerne bei ihm gearbeitet. Er hat mich motiviert und gefordert. Aus familiären Gründen habe ich 1999 den Umzug des Deutschen Bundestages nach Berlin nicht mitgemacht. Durch meine ehrenamtliche Tätigkeit bei Eurosolar ist der Kontakt zu Hermann Scheer nicht abgerissen und ich bin ihm auch heute noch verbunden. Das und die Tatsache, dass ich bei der Erstellung des Buches von Siegfried Pater „Hermann Scheer - Anwalt der Sonne" aus dem Jahr 1998 viel Hintergrundarbeit geleistet habe, ermutigt mich, diesen Beitrag zu schreiben.

Hermann Scheer wurde am 29. April 1944 in Wehrheim im Taunus als drittes von vier Kindern -zwei Brüder, eine Schwester - geboren. Dort im Hessischen verbrachte er seine ersten 7 Lebensjahre. Er muss ein aufgewecktes und fantasiereiches Kind gewesen sein. Mit drei Jahren hat er so getan, als ob er schon lesen könnte und gab seinem Vater eine Vorlesestunde mit umgedrehter Zeitung. Als er in die Schule kam, konnte er lesen, schreiben und beherrschte die Grundrechenarten. Nach vier Wochen wurde er in die zweite Klasse versetzt. Von 1951 bis 1953 hat die Familie in Heidelberg gelebt und ist dann nach Fulda umgezogen. Dort hat Hermann Scheer das Realgymnasium besucht. Er war nicht fleißig. Der Lehrstoff fiel ihm in den Schoß bzw. in den Kopf. In einem seiner Zeugnisse steht die Bemerkung:" Hermann lässt sich oft gehen, seine Mitarbeit erstreckt sich ausschließlich auf die ihn interessierenden Fächer". Zu dieser Wertung steht er heute noch. Als Zwölfjähriger vertrieb er sich die Zeit mit Lesen von Lexika. Seine Kenntnisse in Geschichte - speziell der römischen- waren so umfassend, dass er sich seinen Lehrern überlegen fühlte und sie dies wohl auch merken ließ. Überheblichkeit und die Einstellung, Lernen sei ein unnötiger Aufwand, führte dazu, dass er als 16jähriger eine Klasse wiederholen musste und das Abitur mit Ach und Krach und kreativer Trickserei - worüber er gerne erzählt - schaffte. Seine erste politische Aktion - so Hermann Scheer - sei eine Unterschriftenkampagne in der Schule gegen den vom Lehrerkollegium beschlossenen schulfreien Samstag gewesen. Dem Gemeinwohl diente diese Initiative damals aber noch nicht, sondern eher dem eigenen Interesse. Er hätte es vorgezogen, samstags zur Schule zu gehen, als sich zu Hause im Garten nützlich zu machen. Im Hause Scheer wurden die Kinder auf Anordnung des Vaters regelmäßig zur Gartenarbeit eingeteilt. So erinnert sich die Schwester, dass Bruder Hermann es meistens verstand, sich dabei bewusst so ungeschickt anzustellen, dass der Vater ihn mit einem Tobsuchtsanfall davonjagte. Schon in Fulda und dann auch in Berlin, wohin die Familie im Frühjahr 1957 zog, war Hermann Scheer ein begeisterter Schwimmer. Deshalb blieben Erfolge auch nicht aus. Beim noch heute renommierten Schwimmverein Spandau 04 verbrachte er seine Freizeit, machte keine Schularbeiten und trainierte. Er wurde mehrfach Berliner Jugendmeister. Während seiner Militärzeit war er Mitglied des Nationalkaders im Modernen Fünfkampf. 1967 wurde er, als aktives Mitglied bei SV Nikar Heidelberg, Badischer Schwimmmeister. Nach dem Umzug des Deutschen Bundestages nach Berlin hat er seine Mitgliedschaft im Spandauer Schwimmverein wieder aufleben lassen und gehört der Wasserball-Seniorenmannschaft „Moby Dick" an. Über seinen Trainingseifer wurden keine Recherchen angestellt.

Nach dem Abitur an der Freiherr-vom-Stein-Schule in Berlin-Spandau überlegte er Sportjournalist zu werden, ging dann aber als Offiziersanwärter zur Bundeswehr nach Hannover. In der Grundausbildung erlebte er die Absurdität der Atomwaffen. Das Kommando in einer Übung lautete „Atomschlag von rechts", um sich in den linken Graben zu werfen und mit einer Schutzplane zu überdecken. Das fand er unrealistischer als Räuber- und Gendarm-Spielen und zugleich skurril. Nach drei Jahren verließ er die Bundeswehr als Leutnant. Er war in dieser Zeit zum Atomwaffengegner geworden. 

Linken politischen Ideen oder Diskussionen war Hermann Scheer bisher selten begegnet. Anregungen dazu kamen weder aus dem Elternhaus, noch aus der Schule oder dem Schwimmverein. Im Herbst 1963 lernte er Ernst-Michael Lange und dessen Familie - eine linke Intellektuellenfamilie - kennen, wo bei ihm der Grundstein für linkes Denken gelegt wurde. Der Vater, der Theologieprofessor Ernst Lange, war in den 50er Jahren einer der Sprecher der Bewegung gegen Wiederbewaffnung gewesen. Noch während seiner Offiziersausbildung trat Hermann Scheer nach der Bundestagswahl 1965 in die SPD ein. Zum Studium der Rechts- und Politikwissenschaften ging er 1967 nach Heidelberg. Er geriet von Anfang an in den politischen Sog der Studentenrevolten. Er wollte sich dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) anschließen, der sich in Heidelberg jedoch gerade aufgelöst hatte. So gründete er die Heidelberger SHB-Gruppe neu, die bei den nächsten Wahlen des Studentenparlaments nach dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund zweitstärkste Fraktion wurde. Es kam zu einer Koalition zwischen den beiden Gruppierungen und Hermann Scheer wurde Präsident des Studentenparlaments. Der Weggefährte und Freund Hermann Scheers, Harald B. Schäfer (von 1992 bis 1996 Umweltminister in Baden-Württemberg) erinnert sich in dem Buch „Anwalt der Sonne" an die erste Begegnung mit Hermann Scheer: Nach einer kurzen Nacht mit wenig Schlaf klingelte es zu einer für mich damals unglaublich frühen Zeit in meiner Studentenbude. Ich überwand mich und öffnete mürrisch und schlaftrunken zugleich die Tür. Scheer. Guten Morgen. Bin ich richtig beim Vorsitzenden der Jungsozialisten?' Bevor ich bejahen konnte, war Scheer im Zimmer. Zielstrebig - er wusste, was er wollte. Es wurde an diesem Morgen ein langes mehr als dreistündiges Gespräch, das mich schnell wach werden ließ. Hermann Scheer war in seinem Element: des Wortes mächtig, überzeugt und überzeugend, in sich selbst verliebt und selbstkritisch zugleich. Ein Mensch, der neugierig macht und Ideen hat. In der Heidelberger SPD wurde Hermann Scheer zu dieser Zeit Wortführer der jungen Linken. Seine Wortgefechte auf SPD-Kreiskonferenzen sorgten für Spannung und permanente Konfrontation. Es kam zum Antrag auf Parteiausschluss, der mit einer Rüge endete. Der Vorsitzende der Schiedskommission, der Rechtsprofessor Konrad Duden, sagte ihm damals: „Eigentlich hättest du rausfliegen müssen. Doch mein Gefühl sagt mir, dass du noch einmal sehr wichtig für die SPD wirst."

In Heidelberg lernte Hermann Scheer die Malerin Irm Pontenagel kennen. Sie beschreibt es im „Anwalt der Sonne": Obwohl ich den Namen Scheer nicht kannte, blieb mir die sichere Diskussionsleitung in Erinnerung. Auf dem Höhepunkt der Studentenproteste, in der Hektik der Tage, sah man sich von Zeit zu Zeit. Demos bestimmten den Tagesablauf. Hermann Scheer stets vorneweg. Im Oktober 1970 heirateten Hermann Scheer und Irm Pontenagel. So wie Hermann Scheer selbst, passt auch diese Ehe in kein allgemeines Raster. Ihre Basis ist ein tiefer Grundkonsens und absolute Loyalität zueinander. Seine politischen Aktivitäten hatte er 1970 zunächst abgebrochen und das vernachlässigte Studium wieder aufgenommen. An der Freien Universität Berlin bestand er 1972 sein Examen. Zudem wurde die Tochter Nina geboren, deren Musikalität die Eltern früh erkannten und förderten. Sie ist heute Juristin und diplomierte Violonistin. Hermann Scheer war und ist ein liebevoller und stolzer Vater, präsent, sorgend und helfend bei allen Fährnissen.

Im Oktober 1972 wurde Hermann Scheer wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaften der Universität Stuttgart. Obwohl er zunächst politisch nicht aktiv werden wollte, wurde ihm 1973 vom baden-württembergischen Landesvorstand der Jungsozialisten der Vorsitz ihrer Langzeitprogramm-Kommission angetragen. Ende 1973 wurde er Landesvorsitzender der Jungsozialisten, 1974 stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten und 1975 Vorsitzender der Antrags-Kommission der baden-württembergischen SPD und Mitglied im SPD-Parteirat. Von 1976 -1980 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für angewandte Systemanalyse im Kernforschungszentrum Karlsruhe.

Hermann Scheer wurde schnell zum beachteten Autor politischer Publikationen. Schreiben wurde für ihn praktizierende Programmfindung. Seine erste Monographie, mit der er zum Dr. rer.pol. promovierte, heißt „Parteien kontra Bürger" und erschien 1979. Hierin beschreibt er die seinerzeit nahende -und inzwischen eingetretene - Legitimationskrise der parlamentarischen Parteiendemokratie.

Als Hermann Scheer 1980 in den Bundestag gewählt wurde, dem er bis heute angehört, war er ein rundum ausgebildeter Politiker, selbständig, mit politischer Erfahrung und theoretisch fundiert. Er wurde Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und im Unterausschuss Abrüstung und Rüstungskontrolle. Nach gut einem Jahr war er Obmann seiner Fraktion für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Scheer mischte sich gegen den Rat erfahrener Politiker in die strategischen Fragen ein. Sein politisches Gespür für Zusammenhänge und Entwicklungen verlockte ihn immer wieder zu Alleingängen, die ihm oft als Eigensinn vorgeworfen wurden und im Glashaus seiner Partei provozierend wirkten. In dem Kapitel „Alleingänge und Provokationen" des Buches „Anwalt der Sonne" sind eine Reihe seiner Aktionen beschrieben, von denen ich zwei für mich beispielhafte erwähne.

-    Sein erfolgreichster Alleingang als Abrüstungspolitiker wurde im Sommer 1987 der Konflikt um die Ablehnung des Festhaltens der Bundesregierung an der Stationierung der Pershing Ia-Rakete. Er erreichte es gegen den Willen seiner Fraktionsführung, dass der Bundestag zu einer Sondersitzung zusammengerufen wurde. Wenige Tage später verzichtete der damalige Bundeskanzler Kohl auf die Stationierung der Pershing Ia.
-    Im Frühjahr 1990 veröffentlichte Hermann Scheer einen Artikel über Jugoslawien, die dortigen separatistischen Bestrebungen und den inneren Zerfall des jugoslawischen Bundes seit Ende der Tito-Ära. Er wertete diese Entwicklung als sehr gefährlich für ganz Europa und forderte eine europäische Jugoslawien-Konferenz. Die drohende Aufsplitterung Jugoslawiens berge die Gefahr blutiger Konflikte, sie müsse verhindert werden durch Umwandlung des jugoslawischen Bundes in eine Konföderation mit mehr Autonomie der Bundesstaaten. Trotz vorhersehender - sich bestätigender - Ahnung und Warnung wurde dies als übertrieben beurteilt und überhört.

1986 erschien sein Buch „Die Befreiung von der Bombe. Weltfrieden, europäischer Weg und die Zukunft der Deutschen", das Auslöser für sein Sonnenenergie-Engagement wurde. Es ist eine grundsätzliche Absage an die Atomabschreckung als Mittel der Kriegsverhütung. Anstelle weiterer Rüstungsproduktion für die Weltsicherheit wird hier in einem Exkurs ein technologischer Schwerpunkt für die Umweltsicherheit gefordert mit einem Votum für ein globales ökologisches SDI-Programm - eine „Solar Development Initiative". Dies war sein erster publizistischer Vorstoß für die Sonnenenergie als generelle umwelt-, wirtschafts- und technologiepolitische Perspektive.

Mit der Gründung von Eurosolar, der Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energien, am 22. August 1988 im Bonner „Schaumburger Hof und der seit 1990 vierteljährlich erscheinenden EUROSOLAR-Zeitschrift „Solarzeitalter" startete Hermann Scheer seine Kampagne für Erneuerbare Energien. Aus gelegentlichen Äußerungen und Artikeln wurde ein Dauereinsatz mit inzwischen zahllosen Schriften und Reden, parlamentarischen und politischen Initiativen außerhalb des Parlaments, die alle aufzuzählen den Rahmen dieses Berichts sprengen würde (siehe hierzu „Anwalt der Sonne" und „Auf der Schwelle zum Solarzeitalter - Zwischenbilanz und Ausblick der EUROSOLAR-Arbeit" im Solarzeitalter 1/2002). Es waren vorwiegend EUROSOLAR-Mitglieder im Bundestag aus verschiedenen Fraktionen, mit denen 1990 die Verabschiedung und das Inkrafttreten des Stromeinspeisungsgesetzes erreicht wurde, das die weltweit umfangreichste Markteinführung von Windenergieanlagen bewirkte. Je erfolgreicher das Gesetz wurde, umso mehr wuchs der Widerstand der Stromwirtschaft - sei es, dass die Verfassungsmäßigkeit angezweifelt wurde, was das Bundesverfassungsgericht verwarf, oder die Stromunternehmen gesetzwidrig die Zahlung der Einspeisungsvergütungen verweigerten.

Im Deutschen Bundestag trat Hermann Scheer 1991 die Nachfolge Egon Bahrs im Vorsitz des Unterausschusses Abrüstung und Rüstungskontrolle an, den er 1993 niederlegte, um sich fortan voll auf Initiativen für Erneuerbare Energien zu konzentrieren. Von 1994 bis 1997 war er Vorsitzender des Landwirtschaftsausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, der er seit 1987 angehört. Früh erkannte er, dass die Lösung der Energiefrage wesentlich in der Landwirtschaft liegt, weil Bioenergie ein unerlässlicher Bestandteil des zukünftigen erneuerbaren Energiesystems ist, um jeden Energiebedarf - Strom, Wärme und Treibstoffe - zu decken, neben der Einkommenssteigerung der Landwirte und ihrer Möglichkeit zur Diversifikation. Eine Serie von EUROSOLAR-Konferenzen beschäftigt sich seitdem mit dem Thema „Vom Landwirt zum Rohstoff- und Energiewirt". Das Ergebnis der bisherigen Bemühungen: Seit dem 1. Januar 2004 gilt die Steuerbefreiung aller biogenen Treibstoffe wie Biodiesel oder Bioethanol. (Dies wurde 2006 geändert, Anmerkung TL)

Das 1993 erschienene Buch „Sonnenstrategie. Politik ohne Alternative" wurde in 5 Sprachen übersetzt. Neu überarbeitet gilt es heute noch als insistierenstes Buch. Eine Bibel nannte es Loretta Schäfer, ehemalige Abteilungsleiterin in der Weltbank, anlässlich der Laudatio für Hermann Scheer, als er 1998 auf der 2. Welt-Photovoltaik-Konferenz in Wien den Welt-Solarpreis erhielt. Das Buch hätte sie gerne früher gehabt als Argumentationshilfe und Rückendeckung für ihre Arbeit bei der Weltbank.

1992 initiierte Hermann Scheer als EUR0S0LAR-Präsident im Berliner Reichstagsgebäude ein Symposium „Für ein solares Regierungsviertel". Für das Konzept, den umgebauten Reichstag zu 100% mit Erneuerbaren Energien zu versorgen durch ein mit Pflanzenöl betriebenes Blockheizkraftwerk und Photovoltaik auf dem Dach und die Regierungsgebäude, allen voran das neue Kanzleramt, mit Solaranlagen zu bauen, fand er besonders bei Abgeordneten der Regierungskoalition Mitstreiter. Die Regierungsbauten stehen heute beispielhaft für solares Bauen.

Nach der Bundestagswahl 1994 brachte Hermann Scheer über die SPD-Bundestagsfraktion das 100.000-Dächer-Programm als Gesetzentwurf ein. Es kostete viel Überzeugungsarbeit und dauerte vier Jahre bis es unter der neuen rot-grünen Regierungskoalition 1999 in Kraft trat. Abgelöst wurde es durch das am 1. Januar 2004 in Kraft getretene Vorschaltgesetz zum Entwurf einer Novelle des Erneuerbaren Energie-Gesetzes, das als Nachfolgegesetz des Stromeinspeisungsgesetzes seit April 2000 gilt. Um den vielen offenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Erneuerbaren Energien ein Forum zu geben, wurde Hermann Scheer 1997 Initiator und Mitherausgeber der Zeitschrift für Erneuerbares Energierecht, einer rechtspolitischen und rechtswissenschaftlichen Zeitschrift zur Entwicklung eines marktwirtschaftlichen Energierechts mit ökologischem Rahmen.

Europa- und weltweit wurden Hermann Scheers Initiativen aufgenommen und in einer Vielzahl internationaler Konferenzen weitergetragen, sei es auf dem Gebiet der Photovoltaik, der Biomasse, der Architektur, der Erneuerbaren Energien für die Dritte Welt usw., die er oftmals als Chairman leitete. Dies zeigt seine hohe internationale wissenschaftliche und politische Kompetenz und Reputation. Schon Anfang der 90er Jahre hatte er eine Internationale Behörde der Erneuerbaren Energien (International Renewable Energy Agency - IRENA) gefordert als Gegenstück zur Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Der Weg dahin ist mühsam und noch nicht beendet. Im Juni 2001 gründete er in Berlin den World Council for Renewable Energy (WCRE) und legte einen Aktionsplan für die globale Verbreitung Erneuerbarer Energien vor, der die Forderung nach einer Gründung von IRENA wieder aufnahm. Kraft für seine Unermüdlichkeit geben ihm zweifelsohne die internationalen Anerkennungen, wie die 1997 verliehene Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Varna, die Auszeichnung mit dem Welt-Solarpreis 1998 in Wien und - sicherlich ein Höhepunkt in seinem Leben - die Verleihung des Alternativen Nobelpreises 1999 in Stockholm, dem 2000 der Weltpreis für Bioenergie folgte, und 2002 die Ehrung als "Hero of the Green Century"des amerikanischen TIME-Magazine.

Hermann Scheer hat kein Hobby, weil sein Hobby der Beruf und Schreiben, speziell das von Büchern, ist. Deshalb hat er auch kein Interesse an Urlaub, woran sich seine Mitarbeiter gewöhnen sollten. Sein 1999 erschienenes Buch „Solare Weltwirtschaft" ist außer in Deutsch in bisher elf Sprachen erschienen. Dass die Bibliothek des Deutschen Bundestages über 72 Schriften Scheers verfügt, ist beachtlich, aber mit 13 Titeln, darunter mit all seinen Büchern, in der wohl größten Bibliothek der Welt, der Library of Congress in Washington vertreten zu sein, darauf dürften nur wenige lebende deutsche Politiker verweisen können. Wenn Hermann Scheer ein Buch schreibt, so kommt es einer (Kopf)-Geburt gleich. Bis zum Schreiben bereitet er sich gedanklich, in Gesprächen, durch Lesen und gelegentliches Notieren auf das Thema vor. Man kann keine Gedanken lesen, aber vermutlich dauert das so ungefähr zwei Jahre. Dann entwirft er die Gliederung und das Vorwort. Danach packt ihn die Sucht und er schreibt Tag und Nacht, korrigiert, verwirft, schreibt neu, korrigiert, schreibt wieder neu ....Er schreibt alles mit der Hand. Seine Mitarbeiter übertragen es in den Computer und arbeiten - zumindest in der Schlussphase - auch bis in die Nächte. Sie tun es wegen seines Charismas, seiner Gabe zu motivieren und zu begeistern. Schon wenn das Buch als Druckfahne vorliegt, merkt man ihm den Stolz und die Befriedigung über das von ihm erschaffene Werk an. Er ist dann einfach glücklich.

Die Kraft für ein solches Leben zwischen Erfolgen und durchaus auch Rückschlägen schöpft Hermann Scheer aus einer gesunden Physis, die mit wenig Schlaf auskommt, und einer stabilen Psyche. Die Fähigkeit, herzhaft zu lachen, und die jungenhafte Freude an Witzen gehören dazu. Hermann Scheer ist ein besonderer Mensch. Ihn zu kennen ist etwas sehr Besonderes.