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frankfurter_rundschau_logo.jpgArtikel erschienen in der Frankfurter Rundschau,
12. Juni 1994. Von Helmut Lölhöffel
 
Zwischen Beifall und Verachtung: Hermann Scheer, ein SPD-Abgeordneter, der sich dem Betrieb entzieht.
 
Vergnügt und zufrieden verließ er den Sitzungssaal. Während andere verbissen an Wörtern und Begriffen feilten, hatte er ohne ernsthaften Widerstand einen seiner Wünsche weitgehend durchgesetzt. Doch die an der Tür wartenden Reporter bemerkten die stille Freude des Mannes nicht, der sich wie ein Sieger fühlte. Niemand hielt ihm ein Mikrofon hin, keine Kamera folgte ihm. Verschmitzt zwinkernd und beschwingt von seinem Erfolg strebte Hermann Scheer in sein Büro.
Diese Szene war am 2. Mai in der Bonner SPD-Zentrale zu beobachten. Vier Stunden lang hatte der Parteivorstand über die Endfassung eines sozialdemokratischen Regierungsprogramms beraten. Anschließend teilte der Vorsitzende Rudolf Scharping den Journalisten mit, die Vorlage sei "um einige Aussagen zur Solarenergie ergänzt“ worden.

Die eingefügte Passage stammt aus Scheers Feder. In Alleingang war es ihm gelungen, das Programm um zwölf Zeilen zu verlängern, die vielleicht demnächst von der nach "glasklaren Alternativen“ (Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen) suchenden SPD stärker herausgestellt werden als bisher. Zwar ist keineswegs sensationell, was nun im Abschnitt über eine "neue Energiepolitik“ zusätzlich zu lesen ist. „Wir werden… die passive und aktive Sonnenenergienutzung vorantreiben", heißt es da. „Politische Initiativen zur Markteinführung“ werden angekündigt. Und: "Die Solarzellen-Technologie werden wir durch ein 100.000-Dächer Programm fördern.“ Mit diesen Ideen hat sich die SPD in eine Bewegung eingereiht, der andere folgen werden. Das „Solarzeitalter (Scheer-Buchtitel), die Erschließung der Sonnenstrahlen als Energiequelle, ist kein Traum, sondern ein Zwang wenn die Menschheit Frieden mit der Natur schließen will.

Daß sich die deutschen Sozialdemokraten zögernd so weit vorgewagt haben, ist Scheers Werk. Wäre er nicht vor einem halben Jahr vom Parteitag im zweiten Wahlgang mit 160 Stimmen als letztes und 45. Mitglied in den Vorstand gewählt worden - vielleicht stünden dann solche Aussagen nicht im SPD-Regierungsprogramm, sondern nur in Fachbüchern oder im Wahlprogramm der Bündnis-Grünen.

In Deutschland ist Hermann Scheer den meisten unbekannt. Von vielen, die ihn kennen, wird er verkannt. Unter Sozialdemokraten gilt er als Außenseiter oder Schwärmer, Nörgler oder Schwarzmaler. In weiten Teilen seiner Partei, auch in der Bundestagsfraktion, der er seit zwölf Jahren angehört, wird er jedenfalls weniger ernst genommen als etwa bei Solar-Experimentierern in Aachen oder in der österreichischen Steiermark, wo ihn das Publikum bei einer vom Fernsehen übertragenen Veranstaltung mit Beifall überschüttete, oder in Spanien, wo sein Buch Estrategia Solare ("Sonnen-Strategie“) eine Zeitlang auf dem zweiten Platz der Bestsellerliste stand, gleich hinter den Memoiren der Königin Sofia. Sein Lektor beim Piper Verlag, Klaus Stadler, rühmt "Scheers hohe prophetische Qualitäten". Zustimmend zitiert der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse den Scheer-Satz: „Realpolitik betreiben heißt heute vor allem, die Grenzen unseres Entwicklungsmodells und unserer alten Leitbilder zu erkennen, um nüchtern aber beharrlich an der Herausbildung des Neuen zu arbeiten, das allein die sich abzeichnende Katastrophe abwenden kann."

Michael Müller, Umweltsprecher der SPD-Bundestagfraktion, kennt allerdings aus eigener Erfahrung die Vorbehalte gegen den düsteren Tonfall unkonventioneller Mahner: „Erst wirst du beschimpft, dann vergessen.“ Auf viele wirkt Scheer wie ein Sonderling, dem die Bezüge zur realen Welt abhanden gekommen sind. Er dagegen beklagt einen „gefährlichen Wahrnehmungsverlust der Eliten“ und spürt: „Wer sich in diesem System nicht einordnet, wird schnell zum Fremdkörper.“ Er ist überzeugt, recht zu haben und recht zu behalten: „Viele Dinge wurde als absurd hingestellt, als die ersten anfingen, sie zu formulieren.“

Der 1944 in Weltheim geborene Hermann Scheer wurde nach den Abitur Bundeswehroffizier, studierte Wirtschaft und Politik, ging zunächst an die Stuttgarter Universität und dann als Systemanalytiker zum Kernforschungszentrum Karlsruhe. Als Student schloß er sich den Jungsozialisten an, war Mitte der 70er Jahre deren stellvertretender Vorsitzender und kam 1980 in den Bundestag. In seinem Wahlkreis Waiblingen brachte er 1990 nur 25,3 Prozent der Erststimmen hinter sich, jetzt steht er auf den zweiten Platz der baden-württembergischen SPD-Landesliste.

Anfangs wirkte Scheer im Verteidigungsausschuß mit, dann ging er in den Auswärtigen Ausschuß und wurde Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Vor einem halben Jahr wechselte er überraschend in den zu Unrecht als bedeutungslos eingestuften Landwirtschaftsausschuß, was seinen Ruf als „Themenhüpfer" festigte. Scheer entdeckte die globale Aqrarkrise als „Thema, das neuer strategischer Antworten bedarf“, und die will er finden. Seit kurzem ist er auch Vorsitzender des Landwirtschaftssausschusses in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, wonach er sich drängte.

Doch Scheers zentrales Anliegen ist die Sonnenenergie. 1988 gründete er die Gesellschaft Eurosolar, deren Präsident er seitdem ist. Diese Funktion bringt ihm Feindseeligkeit der Kohle- und der Atomlobby, aber Anerkennung in der Fachwelt ein. Gefragt ist er nicht nur als Referent; regelmäßig darf er als Chairman internationaler Kongresse amtieren, demnächst bei der „Welt-Biomasse-Konferenz“ in Havanna. Überall, wo er auftritt, wirbt er unablässig und eindringlich für diesen Gedankengang: Das Ausmaß der Schäden an Erde, Wasser und Luft ist längst weiter fortgeschritten, als die meisten Menschen wahrhaben mögen. Politische Strategien zur Lösung der weltweiten Umweltkrise werden aber nur halbherzig gesucht. "Report auf Report wird veröffentlicht, und das Ergebnis ist meist nur der Auftrag für einen weiteren Report“, klagt Scheer. Die Bedrohung werde „theoretisch wahrgenommen, aber gleichzeitig praktisch verdrängt".

Scheers Pech ist, daß er. unangenehme Wahrheiten ausspricht. "Noch ein Jahrzehntsorgengeschwängerter Reden, Reports und Konferenzen als Ersatz für politische Aktion wird für die Menschheit lebensgefährlich“, sagt Scheer voraus. Solche Propheten müssen sich eben gefallen lassen, als Überbringer schlechter Nachrichten verachtet oder als Verkünder der Apokalypse verhöhnt zu werden. Vielen ist seine Mischung aus analytischer Distanz und persönlicher Emotion fremd.

Im Lauf der Jahre hat Scheer gelernt, mit dem Image des lästigen Eiferers umzugehen. Auch wenn ihm manchmal zum Verzweifeln zumute ist, weil Entscheidungsträger ihn mit scheinbar geneigter Miene überhören, bohrt er hartnäckig nach. Wenn er sich in der SPD-Fraktion zu Wort meldet, geht mißmutiges Raunen durch die Reihen: Ach, der schon wieder." Manchmal bringt er gar den ganzen Bundestag gegen sich auf wie beim Bonn/ Berlin-Streit am 20. Juni 1991, als er nach zehn Debattenstunden die anderen Abgeordneten mit der Bemerkung reizte, er Iehne "den Namen Reichstag als Tagungsstätte“ des Parlaments ab. Was er danach sagte, ging in Zwischenrufen unter.

Scheers Ruf, ein notorischer Quertreiber zu sein, wird auch dadurch gespeist, daß er häufig bei jenen Minderheiten zu finden ist, die abweichen und ausscheren. Er lehnte den Asylkompromiß ab, auf den sich seine Partei einließ; er fügte sich nicht, als der Maastricht-Vertrag über die Europäische Union abgeschlossen wurde; dem Gatt-Abkommen über neue Formen des Welthandels stimmte er nicht zu.

Die parlamentarischen Geschäftsführer ärgern sich über seine Alleingänge. Die für Umwelt, Energie, Forschung, Verteidigung und Finanzen zuständigen Fraktionskollegen fühlen sich von Scheers Vorstößen genervt. Er aber. mag sich nicht in Strukturen einfügen, obwohl er sie nutzt. Und er entzieht sich dem „stellenplanbestimmten parlamentarischen Geschäftsbetrieb", gegen den er ,,zunehmenden Widerwillen" entwickelt, dennoch nimmt er daran teil. Fünf Bücher hat er geschrieben, vier herausgegeben, unzählige Aufsätze veröffentlicht, zahllose „Grundsatzpapiere" formuliert. Sogar am Heiligen Abend wurde Hermann Scheer in seinem Bonner Abgeordnetenbüro gesehen. Er wollte wohl den Stern von Bethlehem als neue Energiequelle anzapfen", scherzte jemand, der sich über diese ungewöhnliche
Form der Arbeitswut wunderte.

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