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Artikel erschienen in Süddeutsche Zeitung, 22. August 1998

Der Hardliner für sanfte Energien

Von Christiane Grefe. Hermann Scheer, SPD-Bundestagsabgeordneter und Präsident der Vereinigung "Eurosolar" kämpft für einen unabhängigen Ökostrom-Markt. Wenn dieser Redner in Fahrt kommt, dann fliegt auch schon mal eine Mineralwasserflasche vom Pult. So geschehen im SPD-Wahlkampf im Schwabenland. Bei Hermann Scheer allerdings hat der passionierte Schwung seiner Arme kein G'schmäckle hohler Politiker-Gesten aus dem Rhetorik-Kurs. Den Waiblinger Bundestagsabgeordneten reißt es vielmehr aufrichtig, wenn er sich und seinen Zuhörern die "unerträgliche Diskrepanz zwischen den globalen Umweltgefahren und den immer noch fehlenden politischen Initiativen dagegen" vor Augen führt.

Im Sinne des Biberacher Aufklärers Christoph Martin Wieland tritt der Kandidat sodann den Gegenbeweis zur vorherrschenden Meinung an, Wahlkampf müsse inhaltsleer sein. Und entwirft, ohne Manuskript aus dem vollen Datensatz der Weltökologie schöpfend, flammend und dabei mit kühler Logik seine Perspektive, "wie wir vom Teil des Problems zum Teil der Lösung werden können": indem nämlich die atomaren und fossilen Energien durch erneuerbare ersetzt würden. Und zwar nicht ein bißchen - worauf sich ja längst alle einigen können. Sondern: hundertprozentig. So schnell wie möglich. Und weltweit.

Keiner in der SPD sagt das so radikal und kaum ein Grüner. Doch zu beweisen und darauf hinzuwirken, daß seine Vision einer naturverträglichen regionalen Solar-Ökonomie praktisch möglich wird, hat sich der zugleich bullig wie mediterran-elegant wirkende 54 jährige zur Lebensaufgabe gemacht. Mit immer mehr Etappensiegen - obwohl oder weil er mit seinem Engagement so oft quer zur politischen Ritual-Landschaft steht. So war es schon 1988, vor genau zehn Jahren, als der Wirtschafts-und Sozialwissenschaftler endgültig von den technologischen Zukunfts- und Arbeitsmarktchancen der regenerativen Energien überzeugt, zum "Solarfighter" wurde: Mit der Gründung der Vereinigung "Eurosolar".

Damals galt der Abrüstungsexperte als außenpolitischer Hoffnungsträger; die Sonnenkraft hingegen höchstens als Thema für die - auch politische - Wüste. Weshalb viele Genossen Scheers Abreise auf dem vermeintlichen solaren Nebengleis schlicht wunderlich fanden: Warum macht er sich freiwillig zum Außenseiter? Dabei landete der Überzeugungs-Täter mit seiner überparteilichen und ökonomisch unabhängigen Pressure Group für die Sonne einen weitsichtigen politischen Coup. Jedenfalls, wenn man ihn nicht am vordergründigen eigenen Aufstieg mißt, sondern an der Sache - und wenn man zudem Scheers Demokratieverständnis folgt, das Machtausübung nicht allein Regierungen zuschreibt, sondern auch der Gesellschaft unmittelbar. Nachzulesen in "Zurück zur Politik", einer seiner streitbaren wie umstrittenen Schriften.

Tatsächlich hat "Eurosolar" die Nutzungsmöglichkeiten von Wasser, Wind, Biomasse und vor allem Sonnenenergie seither deutlich ausgeweitet, mit einer Fülle praktischer Vorschläge vom Baurecht bis zu Kreditmodellen. Einem ökologischen Think Tank, dem Ingenieure, Architekten, Handwerker, Wissenschaftler und Juristen angehören. Der erfolgreiche Kampf für das Stromeinspeisungsgesetz erhöhte die Marktchancen für die Windenergie; gleiches soll nun für die Photovoltaik erkämpft werden.

Das alles, mit europaweit bereits zehn Sektionen von England bis zur Ukraine. In Brüssel gilt der Eurosolar-Präsident Scheer als besonders einflußreich: Strategievorschläge der Organisation finden sich im Weißbuch "Erneuerbare Energien" der EU-Kommission wieder, das mit unerwartet optimistischen Einschätzungen für den Durchbruch plädiert. Und darüber hinaus hinterließ der Ideen-Generator Spuren weltweit: Von Havanna bis Harare regte er Programme für erneuerbare Energien an, in Indien sogar ein eigenes Ministerium. Er beriet die Vereinten Nationen. Und schlicht ihre politische "Bibel" nennt die Weltbank-Expertin Loretta Schaeffer sein 1993 erschienenes Buch "Sonnenstrategie", in dem er - origineller Denker und überzeugter Generalist - das "Grand Design" einer "Solaren Gesellschaft" beschreibt.

Jahrelang schwamm der Hardliner für sanfte Energien mit all dem gegen den Mehrheits-Strom, im Clinch vor allem mit der Energieindustrie, doch mit einer intellektuellen und politischen Rauflust, die er vielleicht in seiner Jugend als Wasserballstürmer bei "Spandau 04" gelernt haben mag: Auch da sind ja Einstecken-und Austeilenkönnen gefragt, und Ausdauer in einem widerständigen Element. Allmählich aber beginnt sich die Fließrichtung zu drehen: Auch Shell und BP setzen jetzt auf die Solarenergie, Japan und die USA investieren in Millionen-Dächer-Programme. Und so wurde aus dem Spinner ganz offiziell der Vordenker: Für seine Katalysatorfunktion erhielt Scheer soeben den von Regierungs- und Wissenschaftsorganisationen verliehenen ersten "Weltsolarpreis".

Doch: "Konflikte sind das Salz jeder neuen gesellschaftlichen Entwicklung" -welch ein unbequemer Satz als erster einer feierlichen Dankesrede! Scheer, für den Politik Leben ist, sieht seine Sache noch längst nicht am Ziel und in Konfliktvermeidung nur bedrohlichen Problemaufschub. Frech holte der Preisträger zur nächsten Provokation aus: Weil die großen Energieunternehmen an Atom und Kohle noch möglichst lange verdienen wollten, sei "die Einführung der Solarenergie ihnen zu überlassen gleichbedeutend damit, die Tabakindustrie mit einer Nichtraucherkampagne zu beauftragen".

Folglich gilt Scheers Einsatz nun, gemeinsam mit anderen Umweltverbänden, dem Aufbau eines unabhängigen Ökostrom-Marktes: Energie in Bürgerhand. Konkurrenz für die langjährigen Monopole. Wohl wahr: "Ich bin kein Mann des Konsenses." Spätestens bei diesem Satz kommt sie, die Frage, auch in Biberach: Und was sagt die SPD? Tatsächlich eine ambivalente Beziehung: Kämpferisch legt sich Scheer auch mit den eigenen Leuten an, etwa wenn er gegen die Kohlesubventionen zu Felde zieht, die Anpassung an wechselnde Stimmungen anprangert oder den Wahlslogan "Innovation" als Leerformel verspottet, solange der sich keiner langfristigen ökologischen Zielsetzung unterwerfe. In der Bundestagsfraktion nennen ihn Wohlmeinende einen "politischen Künstler" - andere werfen ihm schlicht Disziplinlosigkeit vor, weil er so viel auf Achse sei und quer durch die Ausschüsse im Alleingang nur seine Sache verfolge. Worauf er mit Artikel 38 antwortet, der besagt, daß Abgeordnete "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" seien... Solch demonstrative Distanz empfinden viele als arrogant.

Seiner Kompetenz wegen hat andererseits Oskar Lafontaine Hermann Scheer zum Vorsitzenden des SPD-Umweltforums berufen. Die 100 000-Dächer-Förderung für die Solarenergie drückte vor allem er ins Programm. Seit vielen Jahren sitzt er im Parteivorstand. Und in Baden-Württemberg weit oben auf dem Listenplatz 2. "Wir sind bereit" steht dort allerdings nicht auf seinem Wahlplakat. Sondern: "Ein neues Jahrhundert bauen."