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Interview gesendet in Deutschlandfunk, 04. August 2006

Scheer verlangt Festhalten am Atomausstieg

Moderation: Klaus Remme. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer betrachtet den Störfall im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark als Beleg für die generelle Unsicherheit der Energiegewinnung aus Atomkraft. Um Katastrophen zu vermeiden, müssten die Kraftwerke fehlerfrei sein, sagte Scheer. "Aber Fehlerfreiheit gibt es nicht", fügte er hinzu.

Klaus Remme: Mitgehört hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer. Er ist auch Träger des Alternativen Nobelpreises. Tag, Herr Scheer!

Hermann Scheer: Guten Tag!

Remme: Herr Scheer, der Vorfall liegt ja schon mehr als eine Woche zurück. Haben Sie sich als Abgeordneter ein genaues Bild des Zwischenfalls machen können?

Scheer: Nein. Ich bin genauso auf die öffentlichen Informationen angewiesen wie Sie oder wie der Sprecher von Greenpeace eben. Und das heißt aber nicht, dass man sich kein Urteil erlauben kann über das generelle Problem, was dahinter steht.

Remme: Und wie fällt das aus, Ihr Urteil?

Scheer: Ja, es heißt bei jedem Reaktorunfall oder jedem gerade vermiedenen Reaktorunfall: Das kann bei uns nicht passieren. So hieß es 1978, als in Harrisburg um wenige Minuten man an einer Katastrophe vorbeigeschrammt ist. So hieß es dann 1986 in Tschernobyl, das könne hier nicht passieren, das sei ein besonders riskanter Reaktortyp - übrigens, das war ein Reaktortyp, der ein Jahr vorher in den deutschen atomwissenschaftlichen Zeitungen als besonders sicher hingestellt worden ist. Und so heißt es jetzt in Schweden. Und wir kennen ja die schwedische Kultur, dass die schwedische Kultur in der Sicherheitstechnik oberflächlicher wäre als die deutsche bezogen auf ihre Anforderungen an die jeweilige Gefahrenminderung bei Technologien, das kann ja nun keiner behaupten.

Remme: Herr Scheer, nach Tschernobyl gab es heftige Vorwürfe gegen die offiziellen Stellen in Kiew und Moskau. Und nicht zuletzt kamen diese Klagen eben aus Schweden. Haben die Betreiber in Schweden, hat die Regierung in Stockholm in diesem Fall angemessen reagiert in Sachen Kommunikation?

Scheer: Ich glaube, dass jede Regierung überfordert ist, tatsächlich eine minutiöse Kontrolle auszuüben. Es ist ja sogar so, dass die Kraftwerksgesellschaften überfordert sind. Ich glaube nicht, dass angesichts der Gefahrendimension, die dahinter steckt, eine Kraftwerksgesellschaft, ein Vorstand leichtfertig mit dieser Frage umgeht, weil: Es würde sie ja unmittelbar im Kern treffen, es hätte natürlich existenzielle Auswirkungen auf einen solchen Konzern. Also liegt das Problem doch eher in der Struktur selbst, nämlich dass in einem Reaktor, wo Zehntausende unterschiedlicher technischer Anleitungen - so viele sind es - notwendig sind, die alle aufeinander abgestimmt sein müssen, im Grunde genommen erkennbar sein muss, dass hier die Grenze dessen erreicht ist, was wir an, sagen wir mal, menschlicher Risikobereitschaft tragen können. Atomenergie muss fehlerfrei sein, um Katastrophen verhindern zu können, um Katastrophen vermeiden zu können - eine Katastrophe, die nie eintreten darf. Aber Fehlerfreiheit gibt es nicht.

Remme: In Schweden sind Reaktoren infolge des Unfalls vorsorglich abgeschaltet worden. Sollen auch die deutschen AKWs vorübergehend vom Netz?

Scheer: Also es ist natürlich so: Man braucht auf Grund der jeweiligen Gesetzeslage immer einen ganz bestimmten begründbaren Punkt, um politisch einzugreifen. Und dass jetzt seitens des Umweltministeriums eine zusätzliche Prüfung stattfindet, und zwar anhand der konkreten Ursache des Gefahrenfalls in den schwedischen Reaktoren, ist selbstverständlich. Man muss genau diesen Punkt, aber andere wiederholt überprüfen. Aber im Grunde genommen bestätigt das eigentlich: Die gegenwärtig stattfindenden Versuche, unbedingt an einer Renaissance der Atomenergie zu arbeiten, sind im Grunde genommen absurd. Sie haben gespenstische Züge.

Remme: Aber, wenn ich Sie richtig verstehe, für eine vorsorgliche Abschaltung zu diesem Zeitpunkt ist es in Deutschland zu früh?

Scheer: Ja, das kann ich nicht beurteilen. Das kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls sobald ein Risiko, das, auch wenn es nur im Entferntesten besteht, konkretisiert worden ist durch einen entsprechenden Defekt, muss abgeschaltet werden. Das ist doch völlig klar. Ich kann nicht vom Telefon aus und von der Ferne aus jetzt eine Reaktorsicherheitskontrollbehörde ersetzen.

Remme: Nein, aber Sie haben das schwedische Sicherheitsbewusstsein gerade selbst angesprochen. Die werden ja ihre Gründe haben.

Scheer: Natürlich haben sie ihre Gründe und diese Gründe laufen letztlich darauf hinaus, dass wir uns darum politisch bemühen müssen, so schnell wie möglich den Atomenergiespuk zu beenden.

Remme: Hermann Scheer war das, der SPD-Bundestagsabgeordnete. Herr Scheer, vielen Dank für das Gespräch.

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Interview "Fehlerfreiheit gibt es nicht" (audio)