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Interview erschienen in Der Tagesspiegel, 12. Juni 2002

Hermann Scheer, Träger des Alternativen Nobelpreises, über die Chancen regenerativer Energien und den Schlaf der Selbstgerechten in Deutschland. Herr Scheer, nach Jahren einer eher zögerlichen Entwicklung scheint die Solarwirtschaft mittlerweile eine eigene Dynamik zu entfalten. Wo sehen Sie die größten Fortschritte?

Die Solarwirtschaft deckt ein sehr breites Spektrum technischer Möglichkeiten ab. Am weitesten entwickelt hat sich die Windkraft, nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit. Die deutsche Gesetzgebung ist der wesentliche Motor dieser Entwicklung. Erst durch das Stromeinspeisungsgesetz und da­nach durch das Gesetz über die Erneuerbaren Energien wurde eine beachtliche Industrie in Gang gebracht. Die Anfänge der Windkraftnutzung lagen in den achtziger Jahren in Dänemark. Auch für die Dänen ist Deutschland der Hauptabsatzmarkt. Deshalb hatte die deutsche Gesetzgebung weitreichende Folgen.

Die turmhohen Rotoren gehören bald zum normalen Bild, zumindest in ländlichen Gebieten...

...In Deutschland werden demnächst 10000 Megawatt Strom durch Windkraft produziert. Das ist ein Drittel des weltweit aus Windenergie gewonnenen Stroms.

Welches Potenzial ist bei der Windkraft noch zu erwarten?

Die Technologie von morgen sind große, 30 bis 40 Kilometer vor den Küsten liegende Offshore-Anlagen und die so genannten Hybridanlagen. Sie kombinieren die Windkraft beispielsweise mit einem Biomasse-Generator. Wenn der Wind abflaut, springt die Biomasse ein. Ein solche Hybridlösung werden wir auf der Weltwindenergiekonferenz Anfang Juli im Berliner ICC vorstellen. Das wird einen enormen Schub für eine Stromversorgung ohne Zugang zum Netzverbund bringen. In den USA und in England gibt es bereits erste Pilotprojekte. Im Grunde genommen ist das kein besonderes technisches Problem mehr.

Lässt sich die Windkraft auch mit anderen regenerativen Quellen kombinieren?

Selbstverständlich. Die besten Aussichten haben Länder, die über viel Wasserkraft verfügen. Dazu gehören in unseren Breiten vor allem die Schweiz und Österreich, aber auch Frankreich. Weltweit wären Russland, China und Brasilien zu nennen. Wasserkraft im Netzverbund kombiniert mit Windenergie bietet diesen Ländern die Chance, sich binnen kürzester Zeit nur noch aus natürlichen Quellen mit Strom zu versorgen. Windkraft als innovativer Wirtschaftsfaktor könnte in Deutschland durchaus die Bedeutung der Autoindustrie erreichen, mit einem riesigen Exportpotenzial.

Strom ist nur eine Energieform. Kann die Windkraft noch mehr leisten?

Die Länder des Südens haben oft nur wenig Wasser. Mit Hilfe von Windkraftanlagen lassen sich große Entsalzungsbecken betreiben. Überdies sitzen die Entwicklungsländer bei ihrer Energieversorgung in einer Falle: Herkömmliche Großkraftwerke mit Öl, Gas, Kohle oder Uran verbrauchen bis zu zwei Liter Wasser pro Kilowattstunde erzeugten Stroms. Dieses Wasser ist im Süden oft nicht vorhanden. Hinzu kommen die enormen Kosten für die Leitungsnetze, etwa in Afrika, Lateinamerika oder am Hindukusch. Regenerative Quellen wie die Windenergie könnten dieses Dilemma lösen. Mit ihrer Hilfe lässt sich sogar Wasserstoff herstellen. Dieser Wasserstoff kann mit Kraftstoffen aus Biomasse zu Biobenzin verbunden werden. Alle Länder könnten auf diese Weise sogar ihren eigenen Treibstoff produzieren.

Das klingt ein bisschen wie ein kluger Rat von hoher Warte: Das Biobenzin ist in Deutschland nicht gerade auf dem Vormarsch.

Der Bundestag hat in der vergangenen Woche auf Initiative der Regierungsfraktionen ein Gesetz verabschiedet, wonach Biokraftstoffe bis 2008 generell von der Energiebesteuerung befreit werden. Das betrifft nicht nur Ökodiesel aus Raps, sondern auch Biomethan und Bioethanol. Biomethan wird aus Pflanzenmaterial gewonnen, indem die Kohlenstoffanteile bei hohen Temperaturen vergast werden. Bioethanol entsteht durch die Vergärung von Biomasse. Durch diese Nutzung der gesamten Pflanze und nicht nur des auspressbaren Öls könnten die Bauern bis zu 100 Tonnen Biokraftstoff je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche erzielen. Schon die ersten Anlagen, die diese Biobenzine herstellen, werden durch die Steuerbefreiung billigere Treibstoffe anbieten können als Benzin aus Mineralölen.

Künftig bietet also jeder Bauer sein eigenes Benzin feil, neben Spargel oder Äpfeln?

Der Landwirt wird zusätzlich zum Energiewirt. Die Biobenzine produziert er allerdings kaum selbst, dazu bedarf es regionaler Erzeugungsanlagen. Die dezentrale Erzeugung von Treibstoff wird kommen, da bin ich sicher. Die Mineralölkonzerne haben das genau erkannt und sich gegen das Gesetz gewehrt. Doch die Automobilindustrie unterstützte unseren Vorstoß, übrigens in seltener Allianz mit den Naturschutzverbänden und dem Bauernverband. Die Stadtwerke in Aachen und Schwäbisch-Hall haben bereits angekündigt, Biotreibstoffe in eigener Regie herzustellen. Automobile, die Bio-Kraftstoffe einsetzen können, sind die Fahrzeuge der Zukunft - und damit die Zukunftssicherung der Automobilindustrie.

Wird es die Fotovoltaik bei so viel Windenergie schwerer haben, sich durchzusetzen?

Im Vergleich zur Windenergie liegt die Gewinnung von Strom aus Sonnenlicht ungefähr zehn Jahre zurück. Erst seit dem Jahr 2000 verzeichnen wir eine breitere wirtschaftliche Entwicklung auf diesem Gebiet. Dazu trägt vor allem das 100.000-Solardächer-Programm der Bundesregierung bei, das übrigens schon Schule gemacht hat: In Italien gibt es ein 10.000-Dächer-Programm für Solarstrom, Japan hat ein 70.000-Dächer-Programm aufgelegt und in den USA hatte noch die Clinton-Regierung angekündigt, eine Million Solardächer zu fördern. Das Geld ist nie geflossen, aber diese Ankündigung hat in Übersee viele Initiativen auf diesem Sektor beflügelt. Manchmal helfen eben schon politische Leitmotive.

Demnach handelt es sich um einen staatlich subventionierten Aufschwung?

Nie hat sich ein Energieträger - weder Öl noch Atomkraft - ohne politische Nachhilfe durchgesetzt. Das muss auch für erneuerbare Energie gelten, selbst wenn sie schon den Kostenvergleich mit den etablierten Energieträgern bestehen. Zwei Milliarden Menschen, also ein Drittel der Weltbevölkerung, müssen derzeit ohne Strom auskommen. Die Versorgung ihrer Dörfer mit Solarzellen ist heute schon viel billiger als aufwändige Großkraftwerke mit flächendeckenden Stromnetzen. Auf der Erde gibt es bereits rund 100.000 so genannte Solar Home Systeme. Das hat sich sogar bis in die G8-Runde herumgesprochen. Dort streitet man sich aber noch über die Finanzierung entsprechender Programme.

Wären solche Systeme nicht auch für die Menschen in Deutschland interessant?

Bei uns wird es eher von Bedeutung sein, dass sich die Fotovoltaik sehr leicht in die Architektur integrieren lässt. Eine Glasfassade wird erst dann ihrer Aufgabe voll gerecht, wenn sie zugleich Solarzelle ist und Strom erzeugt. Leider sind die Architekten und Bauingenieure bei uns oft noch blutige Laien, wenn es um Solararchitektur und energiesparendes Bauen geht. Der entscheidende Antrieb eines Wandels in dieser Branche sind jedoch die dauerhaft vermiedenen Energiekosten. Sie müssten in die Baufinan-zierung und Baukredite eingehen, wie heute schon die Mieteinsparungen, die bei der Abschreibung einer Bauinvestition berücksichtigt werden. Wenn Sie die Solarthermie hinzu nehmen, die Ihnen auch noch Warmwasser aus Sonnenenergie bietet, hat sich die Investition spätestens in zwanzig Jahren amortisiert. Danach gibt es kostenfreie Energie. Heute gibt es schon Fertighäuser auf dem Markt, die keinerlei Fremdenergie mehr benötigen.

Also muss doch wieder der Gesetzgeber ran?

Das kann der Gesetzgeber nur zum Teil steuern. Zwar gibt es in Deutschland schon viele Solarstromanlagen, die zusammen 200 Megawatt Solarstrom erzeugen, neben etwa drei Millionen Quadratmetern installierter Solarwärmekollektoren. Ein Fünftel der jährlich neu installierten Solarstromanlagen wird gegenwärtig in Deutschland angeschlossen. Aber die größte Dynamik in der Fotovoltaik erwarte ich bei den Solarzellen für die unzähligen elektrischen Geräte. Da schläft die deutsche Industrie derzeit noch den Schlaf der Selbstgerechten, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Die Japaner machen hier das Tempo. Ich sehe die Gefahr, dass die elektronische Industrie in Europa diesen Trend schlicht verpasst. Diese Zukunftschance kann sie nur mit neuen elektronischen Geräten nutzen, die sich selbst mit Hilfe von Solarzellen versorgen, beispielsweise Handys.

Worin sehen Sie das größte Hindernis, diese Chancen zu ergreifen?

Das vorhandene technische Potenzial der erneuerbaren Energien reicht schon heute aus, den gesamten Energiebedarf der Menschheit zu decken. Aber Gesetze allein nützen nichts, wenn sie nur auf dem Papier stehen. Man muss die Energiewende mit den Menschen machen, sie breit und umfassend informieren. Es geht darum, in den verschiedenen nationalen und regionalen Kulturen ein Bewusstsein für die Möglichkeiten der regenerativen Energiequellen zu schaffen. Nehmen Sie ein Beispiel: Griechenland hat nur ein Fünftel der Bevölkerung von Italien und ein deutlich niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen. Dennoch arbeiten dort achtzig Mal mehr Solaranlagen auf den Gebäuden. Das ist allein aus ökonomischen Gründen nicht erklärbar. Ähnlich verhält es sich mit der deutschen Industrie. Entweder sie entwickelt diese Innovationsbereitschaft oder der Zug fährt ohne sie ab.

Das Gespräch führte Heiko Schwarzburger.

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