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Artikel von Hermann Scheer, Präsident von EUROSOLAR, erschienen in Kursbuch 167, August 2007


Der stolze Anspruch der Politiker lautete einmal: „Global denken, lokal handeln.“ Mittlerweile wird sich global nur noch die lokale Schuld zugewiesen. Alle reden vom Klima, aber wer tut etwas? Und ist dieses „Etwas“ das Richtige? Für was warben die Rockmuster im „Live Earth“-Konzert? Für das im Sinne des Klimaschutzes allenfalls schwindsüchtige Kyoto-Protokoll, das mehr Handel mit Verschmutzungsrechten als Schmutzbeseitigung bewirkt?

Ist es der allgemeine Aufruf, sich der Klimagefahren bewusst zu werden? Und wenn: Hat die Bevölkerung bisher versagt, oder waren und sind es grosso modo Politik und Wirtschaft? Waren sich die Politik- und Wirtschaftsführer, die Leithammel in Wissenschaft und Medien dessen noch nicht bewusst, bevor der Film von Al Gore und die jüngsten Weltklimaberichte auf den Informationsmarkt kamen? Hieß es nicht schon 1992 „Last exit Rio“, anlässlich der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro, die das Programm für das 21. Jahrhundert („Agenda 21“) verkündete? Und wären das Weltenergiesystem und die Weltökologie intakt, wenn es nur die Klimagefahren nicht gäbe?

Tatsächlich tun die meisten Verantwortlichen seit Längerem nicht, was sie längst wissen. Aber warum nicht? Aus Angst vor der Bevölkerung, denen sie eine Umkehr von der globalen Umweltzerstörung nicht zumuten wollen? Aus Feigheit vor Interessengruppen oder aus Einfallslosigkeit? Und tun sie jetzt etwas, oder ist es ein „so tun als ob“? Was seit Rio passierte, war jedenfalls eher das Gegenteil des Erkannten, Erwarteten und Versprochenen. Was global lediglich konkret passierte, war das viel gerühmte Kyoto-Protokoll. Dieses wird nicht verhindern, dass in seinem Zieljahr 2012 die Treibhausgase nochmals drastisch zugenommen haben werden – nicht zuletzt durch politische Entscheidungen wie die Liberalisierung des Welthandels und damit die Vermehrung der Verkehrsströme, darunter die Liberalisierung des internationalen Flugverkehrs mit seinen Billigfluglinien. Es ist nicht alles Bush, was nicht glänzt. Bush ist wohl ignorant, aber andere sind eher schizophren, wenn sie die Klimafolgen ihres unverdrossenen gegenseitigen Tuns beklagen.

„Global denken, lokal handeln“ hieß einst das Motto. Doch daraus wurde „global reden, national aufschieben“. Der jüngste „Erfolg“ war der des „G8-Gipfels“ auf dem Heiligendamm. Man kam überein, Weiteres gemeinsam „ernsthaft zu prüfen“. Erneut also ein einziger konkreter Beschluss – dem zu Folgekonferenzen. Doch scheinbar gibt es dazu keine Alternative, da doch ein globales Problem nur durch gemeinsame globale Vereinbarungen lösbar sei. Das klingt logisch und unbedingt vernünftig. Und so nimmt die Zahl der Teilnehmer mit der Zahl der jeweiligen Konferenzen zu, was das Handlungsdefizit nur umso sichtbarer macht. Höchste Zeit also zu fragen, ob diese Versuche überhaupt die richtigen sein können und welche Böcke sich nunmehr als Gärtner anbieten.

Denn die Verantwortlichen müssen nicht, was sie tun – nämlich die Klimapolitik mit ihrem multilateralen Ansatz zu Tode reiten und dabei ihre Hilflosigkeit demonstrieren und Hoffnungslosigkeit produzieren. Ihr Ansatz wird gehegt und gepflegt auf den Gipfeln und den Ebenen, mit einer immer längeren und bepackteren Karawane von Umweltdiplomaten und den „NGOs“ im Tross.

Nach mittlerweile zwei Jahrzehnten globaler Bemühungen um weltweiten Umweltschutz auf verschiedenen multilateralen Handlungsebenen sieht deren Bilanz betrüblich aus. Bereits der Bericht der „Our Common Future“-Kommission der UN von 1987 warnte deutlich vor den aufkommenden Gefahren. Ihm folgte drei Jahre später die gleichnamige UN-Konferenz im norwegischen Bergen. Gemeinsame Maßnahmen wurden auf die „Rio-Konferenz“ 1992 verschoben, die die Klima-Rahmenkonvention verabschiedete, jedoch wiederum ohne konkrete Verpflichtungen. Als Clinton mit seinem Vize Al Gore 1993 US-Präsident wurde, deklarierte er die Initiative für ein Weltklimaabkommen mit dem Ziel, bis 2010 (!) eine weltweite Minderung der Treibhausgase um 50 % zu erreichen. Ab 1995 startete, in Berlin, die Serie der Weltklimakonferenzen. Von deren Beginn an trat jedoch die amerikanische Delegation als Bremser auf.

Der klimapolitische Hoffnungsträger Al Gore erschien schon gar nicht mehr zur Konferenz, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, dafür geradestehen zu müssen. Das Klimaprotokoll, das seine Bezeichnung einer dieser Konferenzen in Kyoto (1997) verdankt, war in seinen Grundelementen erst im Jahr 2001 fertig. Mittlerweile war Bush jr. US-Präsident geworden. Aber schon zuvor war klar, dass die USA das Abkommen nicht mittragen würden, obwohl es in seinen Verpflichtungen weit hinter dem von ihnen selbst einst vertretenen Zielsetzungen zurückblieb – im Schnitt 6 Prozent Emissionsminderung bis 2012, und das allein für Industriestaaten, obwohl zu diesem Zeitpunkt das von der UN eingesetzte Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) mindestens eine weltweite Minderung von 60 Prozent bis 2050 als erforderlich betrachtet hatte. Trotzdem wurde das Protokoll zum Maß der Dinge. Es trat erst im Februar 2005 in Kraft, weil erst durch den Beitritt Russlands das vereinbarte Staatenquorum erreicht war. Zu diesem Zeitpunkt waren die weltweiten Klimagas-Emissionen seit 1990 um etwa 40 Prozent gestiegen – schneller als je zuvor, und das trotz des zwischenzeitlichen Zusammenbruchs der russischen Wirtschaft!

Wer kann sich im Ernst vorstellen, dass auf diesem Wege – hin zu einem „Kyoto II“ nach 2012 – der große konkrete Problemlösungsschwung kommen könnte? Die UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung 2002 in Johannesburg – die nächste große Zusammenkunft – warnte angesichts jahrelang vergeblicher Konferenzbemühungen in ihrer Abschlusserklärung davor, dass die Menschen „das Vertrauen in ihre Vertreter verlieren und sie als tönendes Blech oder klingende Schellen ansehen“ könnten, wenn sich daran nichts ändere. Aber auch dort wurde die überfällige Frage nach ganz anderen Handlungsansätzen nicht aufgeworfen. Mehr als Minimalverpflichtungen sind damit offenbar nicht zu erreichen, sodass die Diskrepanz zwischen Problem und Problemlösung laufend eklatanter wird. Zu groß sind die unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstadien der beteiligten Länder, als dass Aussicht auf einen Konsens über weitreichende Verpflichtungen denkbar ist. So besteht ein kaum überbrückbarer Widerspruch zwischen notwendigen schnellen und großen Antworten einerseits und den Konsensbemühungen andererseits.

Nun ist zwar kein Staat gezwungen, es nur bei einer erhandelten Minimalverpflichtung zu belassen und nicht darüber hinauszugehen. Doch die Erfahrung zeigt, dass in der politischen Praxis das äußerste Minimum als Maximum des eigenen Tuns betrachtet wird. Das Kyoto-Protokoll, bisher einziges konkretes internationales Resultat, enthält sogar durch seine „flexiblen Instrumente“ (Emissionshandel, Joint Implementation, Clean Development Mechanism) einen ökonomischen Anreiz, nicht mehr als das vereinbarte Minimum zu tun. Wer nämlich darüber hinausgeht, bekommt dafür keinen finanziellen Bonus mehr. Und wer seine eingegangenen Verpflichtungen missachtet, braucht keine Sanktionen zu befürchten. Zwar ist im Klimaprotokoll vorgesehen, dass solche Staaten dann in einer nächsten, noch auszuhandelnden Vertragsperiode höhere Reduktionsverpflichtungen auferlegt bekommen sollen. Doch wahrscheinlich ist eher eine Amnestie, weil es auch für ein „Kyoto II“ um ein Stimmensammeln gehen wird.

Das Grundübel der internationalen Klimapolitik ist, dass Maßnahmen für einen wirkungsvollen Klimaschutz als volkswirtschaftliche Last angesehen werden. Es gilt als unzumutbare Beeinträchtigung der internationalen wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, wenn nur ein einzelnes oder wenige Länder diese Last auf sich nehmen würden. Diese Auffassung gipfelt in dem viel gehörten Satz, dass es auch gar nichts nütze, wenn ein einzelnes Land etwas tue, die anderen aber nicht.

Was als Last wahrgenommen wird, führt automatisch zu dem internationalen Gefeilsche über die Lastenteilung („burden sharing“), so wie es seit Jahr und Tag demonstriert wird.

Wie fragwürdig aber diese Lastenannahme ist, zeigen nicht nur seit Jahren vorliegende Analysen über die sozialen Kosten konventioneller Energieversorgung, etwa die gesundheitsökonomischen Folgen, die über das Klimaproblem hinausgehen. Es zeigen auch jüngere Analysen, vom „Stern-Report“ für die britische Regierung bis zum DIW, die die gesamtwirtschaftlichen Kosten des Klimawandels deutlich höher beziffern als die Kosten zur Verminderung der Schadensquellen in Form der aufzubringenden Investitionen zur Steigerung der Energieeffizienz und zur Nutzung erneuerbarer Energien – den einzigen zweifelsfreien Maßnahmen zum Klimaschutz. Bei diesen Investitionen handelt es sich um vielfältige technische Innovationen, mit denen nicht nur konventionelle Brennstoffe ersetzt werden, sondern die Strukturen der Energieversorgung selbst – von der Förderung der Energiequellen bis zu den Transportinfrastrukturen, den Kraftanlagen und den Nutzungstechniken – einem breit angelegten und tief gehenden Wandel ausgesetzt sind.

Im Kern geht es um eine neue technologische Revolution mit vielfältigen neuen Produktions- und Anwendungstechniken, die die Produktivität einer Volkswirtschaft erhöhen und darüber hinaus vielfache volkswirtschaftlich bedeutsame Zusatzeffekte haben, die über das Ziel der Senkung von Treibhausgasen hinausgehen: neue industrielle Arbeitsplätze und neue technische Dienstleistungstätigkeiten – vor allen für diejenigen Volkswirtschaften, die hierbei eine Vorreiterrolle einnehmen; Entlastung der Zahlungsbilanz und verbesserte Energiesicherheit durch verminderte Energieimporte; Erhöhung der Versorgungssicherheit; Minderung der Umweltfolgelasten.

Bei jeder technologischen Revolution, die neue Möglichkeiten aufschließt, hieß und heißt es stets, man solle schneller sein als andere, weil das der wirtschaftlichen Zukunftssicherung nur nutzen kann. So auch bei der immer noch anhaltenden informationstechnologischen Revolution. Bei dieser war von vornherein klar, dass sie einen strukturellen Umbruch in der Wirtschaft auslöst, mit sogar einschneidenden Verwerfungen einzelner Wirtschaftszweige und dem Aufkommen neuer Unternehmen – also Folgen, die Joseph Schumpeter als notwendige „schöpferische Zerstörung“ beschrieb. Keine Regierung kam je auf die Idee, wegen solcher struktureller Folgen die Realisierung einer für sinnvoll erachteten technologischen Revolution davon abhängig zu machen, ob alle Volkswirtschaften sofort mitziehen. Schon gar nicht haben sie einen internationalen Vertrag mit vereinbarten und handelbaren Einführungsquoten zur Vorbedingung gemacht. Ein schneller Strukturwandel ist ohne die Inkaufnahme von Kapitalvernichtungen im Istbestand nicht zu haben. Das ist der normale „Preis“ von Marktwirtschaften. Es ist auch der „Preis“ einer zeitgerechten Abwendung der Klimagefahren. Dass dennoch bei der anstehenden technologischen Revolutionierung der Energieversorgung anders gedacht und gehandelt wird, ist die Folge eines strukturkonservierenden Denkens in Energiepolitik und -wirtschaft, das über lange Zeiträume entstanden ist und unverkennbare protektionistische Züge hat.

Wenn demgegenüber etwas bei zusammenhängender Sichtweise nicht als Last, sondern als neue Chance begriffen wird, bedarf es auch keines verpflichtenden Vertrages. Man tut es und setzt damit eine neue Dynamik in Gang, die umso größere Wellen schlägt, je größer der Problemdruck und die Lösungsattraktivität zur Druckentlastung sind. Ein Beispiel dafür ist das deutsche Erneuerbare-Energie-Gesetz: Dieses hat in sieben Jahren Geltungskraft zu 50 Millionen Tonnen CO₂-Minderung geführt und etwa 200 000 neue Arbeitsplätze geschaffen in Unternehmen, die nun auf dem Weltmarkt als Technologieführer antreten. Es hat in jüngerer Zeit mehr als 40 Länder als Nachahmer gefunden. Im Vergleich dazu liegen die Emissionsminderungen durch das deutsche, auf dem Kyoto-Protokoll aufbauende Emissionshandelsgesetz bei nicht einmal einem Zehntel – und das aufgrund der Einpreisung der Emissionszertifikate zu höheren finanziellen Mehrbelastungen der Stromverbraucher als durch das EEG.

Damit sollen die Mühen einer zunächst unilateral vorangetriebenen technologischen Revolution der Energieversorgung mit ihrem positiven Klimaeffekt nicht heruntergespielt werden. Volkswirtschaftliche Vorteile sind nicht automatisch einzelwirtschaftliche für jeden Wirtschaftsteilnehmer. Deshalb müssen sie mit den dafür geeignetsten politischen Instrumenten übersetzt werden in einzelwirtschaftliche Anreize – neben gezielter Technologieförderung und darauf bezogener Ausbildung. Diese politische Handlungskunst ist mehr als alles andere gefordert. Welche Instrumente die effektivsten dafür sind, hängt nicht zuletzt vom Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft und ihren gegebenen Strukturen ab.

Sosehr Regierungen hierbei ihre Erfahrungen austauschen müssen, so wenig ist eine verbindliche Gleichmacherei ratsam, schon weil das unnötige Widerstände provoziert. Der wichtigste Punkt ist, die Anfangshürden der Mobilisierung der Technologien für erneuerbare Energien und der Energieeffizienzsteigerung überwinden zu helfen. Stets geht es dabei um einen zunächst höheren Investitionsaufwand, der den kommerziellen Brennstoffbedarf dauerhaft reduziert. Mit anderen Worten: Es geht um unkonventionelle Finanzierungsansätze und längere Abschreibungszeiträume für energetische Zukunftsinvestitionen. Wir müssen wieder lernen, auf Zeitachsen zu kalkulieren.

Bemühungen werden dadurch nicht unbedingt überflüssig. Aber sie müssen andere Verhandlungsgegenstände aufgreifen. Auf die Tagesordnung gehören alle Fragen, die dem jeweils selbstständigen, klimaschützenden Strukturwandel der Energieversorgung international entgegenstehen: etwa der Abbau der teilweise exorbitant hohen Zollschranken für diese Energietechnologien, die im krassen Gegensatz zur Zollfreiheit für Rohenergieimporte stehen. Oder die Organisierung des Transfers dieser Technologien in die vielen Länder mit Nachholbedarf, vor allem mithilfe einer internationalen Agentur für erneuerbare Energien; eine auf die Einrichtung einer solchen Agentur zielende Initiative steht im Arbeitsprogramm der Großen Koalition. Die Einführung umfänglicher Portfolios für diese Technologien bei den internationalen Entwicklungsbanken mit Vorzugszinsen und Mikrokrediten ist ein weiterer schlüsselhafter Gegenstand. Ebenso die Besteuerung von Flugtreibstoffen, nicht zuletzt für die Bildung eines Finanzierungsfonds für klimaschonende Investitionen in Entwicklungs- und Schwellenländern, einschließlich solcher für ein globales Aufforstungsprogramm, um Übermengen an CO2 wieder in Bäume zu speichern.

So viel unilaterale Eigenverantwortung wie möglich, so viel multilaterale Assistenz dafür wie nötig – daraus erwächst eine problem- und realitätsnahe Entwicklung zum Weltklimaschutz, mit mehr globalen Konsenschancen als die bisherigen Bemühungen. Vom Historiker Christian Meier stammt die Unterscheidung zwischen „Macht in den Verhältnissen“ und „Macht über die Verhältnisse“. Erstere beschränkt sich auf die gegebenen Konstellationen, sodass man in ihnen gefangen bleibt und mehr als geringfügige Fortschritte nicht möglich sind. Aber beim Klimawandel geht es darum, die Verhältnisse zu ändern durch eine problemgerechtere Methodik des Handelns, das eigenverantwortlicher sein muss. Weder unilaterale noch multilaterale Ansätze sind bloßer Selbstzweck.

Beide müssen sich durch ihre Problemlösungsqualität legitimieren. Ein multilateraler Ansatz, der nur Schleppendes hervorbringt, schadet allen. Unilaterales Vorgehen ist jedenfalls dann angebracht, wenn es nicht nur einem selbst nützt, sondern die Gesamtentwicklung auch andernorts beflügeln hilft.

Artikel  Artikel "Klimapolitik in der multilateralen Falle" (pdf)

www.zeit.de