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Die PolitikerArtikel erschienen in Frankfurter Rundschau, 06. Oktober 2003 

Die immer stärkere Spezialisierung der Parlamentarier lässt das Politische verkümmern. Durch die bis ins Absurde vollzogene Aufgliederung in spezialisierte Zuständigkeiten häufen sich auch die Fehler in der Parlamentsarbeit, warnt Hermann Scheer. Der Text ist seinem neuen Buch "Die Politiker" entnommen, in dem er Handlungsbedingungen der Politik untersucht.

Der Verwandlung von Politikern in Spezialpolitiker liegt die Vorstellung eines stabilen Politikgebäudes zu Grunde, an dem nur noch die laufenden handwerklichen Instandhaltungs-, Ausbesserungs-, Verschönerungs- und Anbaumaßnahmen vorgenommen werden müssen. Diese Vorstellung entstammt der Hochzeit des modernen Wohlfahrtsstaats mit der industriellen Wachstumsgesellschaft.

An die Stelle der prinzipiellen Kontroverse trat der "Sachverstand"

Alle Grundfragen schienen geklärt: Die Verfassungsordnung war weithin akzeptiert, die Wirtschaftsordnung und die internationale Einordnung in die westliche Staatengemeinschaft wurden nur noch von Außenseitern in Frage gestellt. Fortan ging es scheinbar nur noch um Auslegungsfragen der Verfassung, um mehr oder weniger Umverteilung, Staat, Markt, Mitbestimmung, um mehr oder weniger Rüstung, Umweltvorsorge, Steuern, Entwicklungshilfe, Bildungsanstrengungen, Straßen oder öffentliche Einrichtungen. Künftig stehe, so dieses Denkmuster, nicht länger die prinzipielle Kontroverse zwischen unterschiedlichen Ideologien über das politisch-wirtschaftliche System im innenpolitischen Vordergrund, vielmehr zähle in erster Linie der bessere oder schlechtere "Sachverstand".

Die Installierung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, des "Rates der fünf Weisen", im Jahre 1963 drückte diese Grundhaltung ebenso aus wie die Einrichtung der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel 1970 durch die sozialliberale Koalition, die des Sachverständigenrats für Umweltfragen im Jahr 1990, die des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen im Jahr 1992 oder die des Nationalen Ethikrats durch die rot-grüne Koalition im Jahr 2000. Sie alle gründen in dem Gedanken, dass strittige Fragen im sachverständigen Diskurs mit der entsprechenden wissenschaftlichen Hilfestellung rational aufgelöst und auf diese Weise letztlich in breitem Konsens gelöst werden können. (...) Die "wissenschaftliche Politikberatung" wurde zum Betätigungsfeld zahlreicher Institute, die Massenproduktion von Politikgutachten und -szenarien setzte ein und überflutet seitdem die Schreibtische von Ministern und Parlamentariern.

Dass es in der Politik gleichwohl immer wieder um Grundsatzfragen geht, wird spätestens in Wahlkämpfen immer wieder offenkundig. Denn Wähler lassen sich mit (scheinbar) wertneutralen und objektiven Expertenstandpunkten nicht mobilisieren - jedenfalls nicht von den Rednern, die nur trockene, scheinbar wertneutrale Fachvorträge halten und der konkurrierenden Partei keine prinzipiellen Gegenmodelle mehr unterstellen, sondern nur noch Ignoranz.

Und die Wähler haben Recht: Es widerspricht jeder Erfahrung, dass die Unterschiede zwischen Parteien lediglich solche des unterschiedlichen kollektiven Sachverstands sind, als befänden sich in der einen Partei durchgängig die Sachverständigen, in der gegnerischen nur die Laien. Dies soll dazu dienen, der tatsächlichen politischen Absicht einen objektiven Anspruch zu geben.

Wer für die Atomenergie ist, sagt dies kaum noch, sondern er beruft sich auf den "Sachverstand", dass ohne diese die Energieversorgung "leider" nicht gesichert werden könne. Wer gegen Sonnenenergie ist, bekundet seine Sympathie für diese, wirft aber die "sachverständige Behauptung" ein, dass damit die Energieversorgung einer Industriegesellschaft "leider" nicht möglich sei. Doch das Politische ist und bleibt ein Meinungs- und Positionskampf divergierender Ideen und Motive - und diese Auseinandersetzung kann durch keine noch so wissenschaftliche Spezialisierung ersetzt werden.

Politische Grundsatzfragen werden der politischen Führung überlassen

Seit den 60er Jahren wurde das "piecemeal social engineering" zum Leitbild einer neuen Politikergeneration. Politiker galten fortan als Sozialingenieure, die sich auf Renovierungsarbeiten politischer Stückwerke konzentrieren; die diese politische Fachzuständigkeit zu ihrem hauptsächlichen Betätigungsgebiet machen; die sich auf ihrem Gebiet bewähren, um dann zunächst innerhalb ihrer Parlamentsfraktion in eine Sprecherrolle aufzusteigen mit der Perspektive, gegebenenfalls Parlamentarischer Staatssekretär oder vielleicht Minister zu werden.

Politische Grundsatzfragen werden in diesem Modell der politischen Führung überlassen. Für die übrigen gilt ein technokratisches Handlungsverständnis, in dem sich die politischen Akteure die Blickwinkel und die jeweilige Fachsprache ihrer Disziplin aneignen und sich das Denken und Handeln in gesellschaftlichen Zusammenhängen abgewöhnen müssen - womit sie vielfach, wenn auch nicht zwingend, ihre politische Kommunikationsfähigkeit mit der Allgemeinheit einbüßen. Das Parlament mit seinen Parlamentsfraktionen hat eine Arbeitsstruktur angenommen, die - so merkwürdig das klingt - die Abgeordneten zur Entpolitisierung ihrer Tätigkeit beinahe zwingt.

Es erscheint widersprüchlich, doch die Resultate der Politik sind durch die Verwandlung von Politikern in Experten und den Ausbau der wissenschaftlichen Politikberatung unzulänglicher und fehlerhafter geworden. Aus nachvollziehbaren Gründen: Die Betrachtungsmuster der Wissenschaft sind auf die Politik nicht übertragbar: Wissenschaftler müssen sich methodisch legitimieren - die Politik hingegen muss sich in der Gesellschaft an dem orientieren, was in Bezug auf die Wertvorstellungen der Menschen und auf die sozialen Konsequenzen zumutbar und erstrebenswert ist. Fehler in der Wissenschaft bleiben - so weit sie noch nicht in die Praxis umgesetzt sind - folgenlos, politische Schritte nicht. (...)

Ein weiterer Grund für die Häufung von Fehlern in der Politik ist, dass Parlamentsfraktionen heute durch die beschriebene, bis ins Absurde vollzogene Aufgliederung in spezialisierte Zuständigkeiten strukturiert sind wie eine Behörde. Es gibt nicht nur die unumgängliche parlamentarische Arbeitsteilung in Parlamentsausschüssen, die jedes im Kabinett vertretene Ressort begleiten und kontrollieren sollen. Welche Abgeordneten in welchen Ausschüssen sitzen, entscheiden die Fraktionen, denen die Ausschussplätze proportional zu ihrer Stärke im Parlament zustehen. Individuelle Wünsche von Abgeordneten werden berücksichtigt - solange es nicht für einen Ausschuss mehr Anmeldungen als verfügbare Plätze gibt. In diesem Fall muss die Fraktionsführung auswählen. Diejenigen Abgeordneten einer Fraktion, die schließlich in die Ausschüsse delegiert werden, bilden dort eine gemeinsame Arbeitsgruppe und wählen dafür Sprecher und Stellvertreter, die von der Gesamtfraktion bestätigt werden müssen. Darüber hinaus bilden die Fraktionen Querschnittsarbeitsgruppen oder Arbeitskreise, in denen Abgeordnete aus Ausschüssen mit verwandten oder sich überschneidenden Zuständigkeiten arbeiten. Auf der Ebene der Arbeitsgruppen setzt dann eine akkurate Zuständigkeitsverteilung für Einzelthemen unter den Abgeordneten einer Fraktion ein. Eine flächendeckende Zuteilung von Themen.

Ein Beispiel dafür ist die folgende Zuständigkeitsliste der Arbeitsgruppe Wirtschaft und Arbeit der SPD-Bundestagsfraktion: Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik (unterteilt in nochmals ausdifferenzierte Zuständigkeiten für die Organisation der Bundesanstalt für Arbeit, Zeitarbeit, Ost, Frauen, Ältere Arbeitnehmer, Arbeitsvermittlung, Jugendarbeitslosigkeit, Qualifizierung), individuelles Arbeitsrecht, kollektives Arbeitsrecht, Arbeitszeitgestaltung, Arbeitsschutz/Arbeitszeitkonten, Neue Qualität der Arbeit, Ausländerbeschäftigung/Integration, Außenwirtschaft, Bürokratieabbau, Energiepolitik, European Recovery Program, Haushaltsdienstleistungen, Gewerbliche Wirtschaft, Internationale Arbeitsmarktpolitik, Mittelstandspolitik (unterteilt in Handwerk, Handel und Mittelstandsfinanzierung), Neue Länder, Regionalpolitik, Technologiepolitik (unterteilt in Informationstechnologie/Medienpolitik, Biotechnologie, allgemeine Technologie), allgemeine Telekommunikation, Post, Makro- und Konjunkturpolitik, Wettbewerbspolitik, EU-Politik (unterteilt in EU-Politik allgemein und EU-Beschäftigungspool), Haushalt sowie Mitberatungen (bezogen auf andere Ausschüsse) für Bildung, Forschung, Steuern, Finanzmärkte, Übernahmegesetz, Familie und Jugend, Gesundheit und Soziales, Innen, Kultur und Medien, Landwirtschaft, Recht, Tourismus, Umwelt, Bauen und Verkehr.

Die Berechenbarkeit von Reden hat ihren Grund

Diese 49 Zuständigkeiten sind auf 19 Arbeitsgruppenmitglieder verteilt. Bezogen auf alle Arbeitsgruppen der SPD-Fraktion kommt diese auf etwa 1000 verteilte Einzelzuständigkeiten; ähnlich ist es bei der CDU/CSU. Etwas weniger breit gestreut ist das bei kleineren Fraktionen, weil sie gar nicht genug Abgeordnete für eine derart extensive Zuständigkeitsdifferenzierung haben. So entstehen abgesteckte Reviere für eine Legislaturperiode, die jeweils von den anderen Kollegen zu respektieren sind. Steht ein Gesetz zu einem der genannten Themen an, so ist von vornherein entschieden, wer dazu im Ausschuss die Berichterstattung übernimmt und wer bei einer Plenardebatte darüber redet - auch ein Grund für die Berechenbarkeit der Reden.

Der Parlamentsbetrieb wird monoton und behindert Kreativität

Bei individuellen Initiativen für ein Gesetz ist ebenfalls ein Hürdenlauf angesagt, wenn der Vorschlag nicht von den Zuständigen aufgenommen wird. Dann muss ein Gruppenantrag organisiert werden, das heißt, andere Abgeordnete müssen zur Unterstützung gewonnen werden. Die Fraktionsgeschäftsordnungen schreiben jedoch vor, dass solche Anträge zunächst in der eigenen Fraktion - also nur mit Unterschriften von Fraktionsangehörigen - eingebracht werden sollen. Wenn die für das Thema des Antrags zuständige Arbeitsgruppe diese Initiative mehrheitlich ablehnt, kommt er, selbst wenn die Aussicht auf eine Fraktionsmehrheit gegeben ist, noch nicht einmal auf die Tagesordnung der Fraktionssitzung.

Keinem Abgeordneten ist es offiziell verboten, einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag zu stellen. Auch die Geschäftsordnung einer Fraktion kann das nicht verhindern. Da aber alle Fraktionen eine vergleichbare Struktur haben, ist die Aussicht, die für eine Gesetzesinitiative im Bundestag erforderliche Zahl von Unterstützern zu gewinnen, äußerst gering. Gelänge ein solcher Versuch, würde der Antrag nach der offiziellen Einbringung wiederum an den zuständigen Ausschuss verwiesen. Findet er dort keine Mehrheit, kommt er nicht mehr ins Plenum zurück und ist beerdigt. Zu den wenigen Ausnahmen von diesem Muster zählen bisher Initiativen zu fundamentalen humanethischen Grundsatzfragen, wie zur Abtreibung oder zum Embryonenschutzgesetz.

Für diese das Engagement des einzelnen Parlamentariers beschneidenden Arbeitsformen und -strukturen lassen sich durchaus nachvollziehbare Gründe nennen: Sie sollen die Fraktionen geschlossen halten, wie es in der Öffentlichkeit durchaus erwartet wird, deren Arbeitsfähigkeit sichern, und sie folgen penibel einem kollegialen Gleichheitsgrundsatz. Aber die Konsequenzen sind überwiegend negativ: Der Parlamentsbetrieb wird monoton, lässt kaum Raum dafür, dass sich auch formal Unzuständige äußern, und behindert politische Kreativität. Er zwingt die Abgeordneten in die Spezialisierung. Und alle in einen gigantischen, zeitraubenden Kommunikationsaufwand. Denn je mehr Einzelzuständigkeiten, desto größer ist der Abstimmungsbedarf untereinander.

Der permanente Abstimmungsbedarf führt neben seiner Umständlichkeit zu einer Binnenhierarchisierung in den Fraktionen und bürokratisiert die Diskussionsabläufe bis in die partikularisierten Kleinhierarchien von Arbeitsgruppen hinein: Der Fraktionsvorsitzende wird zum Behördenchef, seine Stellvertreter zu Abteilungsleitern, die Arbeitsgruppenvorsitzenden zu Referatsleitern, die "einfachen Abgeordneten" zu Sachbearbeitern. Wer sich der Spezialisierung entzieht, gilt als "bunter Vogel".

Buch "Die Politiker"