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Artikel erschienen in Der Tagespiegel, 02. Februar 2002 

Franklin D. Roosevelts "New Deal" ist moderner als viele glauben

Als "greatest man I have ever known" bezeichnete ihn der legendäre britische Premierminister Churchill in den 40er Jahren. In der Neujahrsausgabe 2000 der „International Herald Tribune“ bewertete ihn der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes als „besten Staatsmann des Jahrhunderts“. US-Präsident Clinton nannte ihn bewundernd und durchaus neidisch „Captain courageus“, und die „Time“ widmete ihm 1999 eine enthusiastische Titelgeschichte: Franklin Delano Roosevelt, vor 120 Jahren am 30. Januar geboren.

Zehn Tage vor Hitlers Machtergreifung in Deutschland trat er sein Amt als US-Präsident an, überlebte dessen Ende um einige Monate und starb im Amt – ein frappierend zeitgleiches, umfassendes und dabei einzigartiges Kontrastprogramm. Für unsere Gegenwart verkörpert er wie kein anderer den Gegensatz zu politischer Hilfs- und Ideenlosigkeit gegenüber wirtschaftlichen Niedergang und sozialer Depression.

Roosevelt setzte eine sozialreformerische demokratische Antwort auf die tiefste wirtschaftliche Krise seines Landes durch, die in Europa als dem vermeintlichen Heimatkontinent sozialer Bewegungen nicht gefunden wurde. Er führte die USA in den Krieg mit Hitler-Deutschland und hob mitten im Krieg die Vereinten Nationen aus der Taufe. Er repräsentierte das andere Amerika– und entlockte selbst Senator Taft, einem seiner erbittertsten Gegenspieler, das Urteil „the greatest figure of our time“.

Dass mehr als ein halbes Jahrhundert später in den USA die Erinnerung an ihn wieder wach wird, ist mehr als eine bloße Reminiszenz an den längstamtierenden Präsidenten der USA. Wenn historische Figuren wiederentdeckt werden, liegt das an von ihnen repräsentierten Eigenschaften, die gegenwärtig wehmütig vermisst werden. Angesichts der einzigartigen Weltstellung der USA sind die, auch in Form neu erscheinender Biographien, aktuellen Roosevelt-Memorials weniger seiner internationalen Rolle geschuldet, die für die zweite Hälfte seiner Amtszeit steht und die sein Land zur seitdem dominierenden Weltmacht werden ließ. Sie gilt vorwiegend dem innenpolitischen Reformer: dem Initiator des berühmten „New Deal“ – und damit dem bis heute erfolgreichsten Beispiel demokratischer Überwindung der tiefgreifenden wirtschaftlichen und damit einhergehenden gesellschaftlichen Krise.

Eine Krise, die scheinbar ausweg- und hoffnungslos von Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Umweltzerstörung, von wirtschaftlicher Verödung ganzer Wirtschaftszweige und Regionen gezeichnet war, der ruchlose wirtschaftliche Großinteressen, ideenloses Staatsversagen und wachsender Demokratieverdruss gegenüberstanden. Diese Krise hatte seinerzeit die USA eher noch schlimmer als Deutschland erfasst, ausgelöst durch die weltweite Wirtschaftsdepression der 30er Jahre. Sie führte offen das Scheitern des Wirtschaftsliberalismus vor Augen.

In abgewandelter Form zeigt die Gegenwart zu diesen Jahren immer mehr Parallelen, nicht in all ihren Ursachen, aber vergleichbar in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen. Längst ist auch die aktuelle Krise mehr als eine bloße Konjunkturkrise, aus der der allenthalben beschworene Aufschwung rettet. Deshalb ist die Roosevelt’sche Reformpolitik auch das markanteste Gegenbeispiel einer gegenüber strukturellen Krisen und ihren soziale Verwerfungen mut- und einfallslos scheinenden Gegenwartspolitik. Immer schwerer fällt es den finanziell ausgepowerten Regierungen, ihre soziale Pufferrolle noch ausüben zu können. Sie stehen im Teufelskreis zwischen immer weniger aufschiebbaren Handlungserwartungen für neue Beschäftigungsimpulse, wachsenden Anforderungen an Bildungs- und Sozialprogramme und für Infrastruktur- und Umweltvorsorge, aber gleichzeitig uferlos scheinenden Finanzkrisen; zwischen anhaltend hohen oder gar steigenden öffentlichen Abgabenlasten, jedoch sinkenden Staatsleistungen. Trotz sich zuspitzender Probleme grassieren Politikmüdigkeit und –verdruß. Der wirtschaftlichen Aussichtslosigkeit folgt die mentale. In dieser Situation mehren sich Stimmen, die in direkter Anspielung an Roosevelt einen neuen „New Deal“ fordern, damit aber meistens nur auf ein staatliches Konjunkturprogramm zielen – womit sie die tatsächliche Substanz der Roosevelt’schen Reformen verkennen und unterschätzen.

Staatliche Konjunkturprogramme werden nicht nur aus ideologischen Gründen oder wegen fehlender staatlicher Finanzen verworfen. Angesichts globaler Unternehmenskonzentration und unkontrollierbar gewordener internationaler Finanzmärkte gelten sie als Ansätze, über die die Zeit hinweg gegangen sei. Stattdessen dominieren Forderungen, dem Staatsversagen durch pauschale Entstaatlichung beizukommen. Obwohl auch solche Ansätze in den letzten Jahren grandios gescheitert sind, werden sie hartnäckig weiter vertreten, vielleicht weil sie politische Tatenlosigkeit legitimieren helfen: die Übertragung öffentlicher Aufgaben an den „Markt“, die Reduzierung der Politik auf fleischlose Rahmenbedingungen, damit sich wirtschaftliche „Selbstheilungskräfte“ entfalten können. Direkte Staatsintervention erscheint als kostspieliger Anachronismus. Nicht der Markt gilt als vernunftsblind, sondern die Politik per se als wirtschaftsblind. Die allfälligen Entschuldigungen der Regierungen lauten, mehr als Kleinkorrekturen mit leider geringem Lösungspotential seien nicht mehr möglich und große Gestaltungsentwürfe gebe es nicht mehr. Als Ausweis politischer Wirtschaftskompetenz gilt wirtschaftlicher Politikverzicht.

Das Publikum gewinnt den betäubenden Eindruck letztlich kaum noch unterscheidbarer und unter dem Strich insuffizienter Politikangebote. Es entsteht eine Frustrationsspirale, die mit jeder wirtschaftlichen Krisenverschärfung demokratiegefährdender wird.

Doch Roosevelt wäre nicht der wohl erfolgreichste innenpolitische Reformer der westlichen Demokratiegeschichte geworden, wenn er ein simpler Konjunkturpolitiker gewesen wäre. Er setzte vor allem auf strukturpolitische Strategien, die auf eine dauerhaft tragfähige neue Basis für Problemregionen – und die den sozialen Verantwortungsrahmen von Staat und Privatwirtschaft betrafen. Darüber hinaus setzte er auf groß angelegte unmittelbar wirkende Hilfsprogramme, die einen aktiven und handlungsfähigen Staat zeigten.

Zudem war er ein ebenso begnadeter Massenkommunikator, Thomas Mann beschrieb ihn gar als „Massendompteur“, der für seine Vorhaben gekonnt die Öffentlichkeit motivierte. Er verkörperte eine offensive geistige Führung gegen ein Amerika, das für ihn an „nur materiellen Dingen“ erkrankt war. Er demonstrierte einen die Gesellschaft inspirierenden Optimismus, der mit konkreten Handlungsprogrammen unterfüttert war und deshalb nicht in den Medienwelten verwehte, weil er nicht nur für die Medien formuliert war.

Er ging Konflikten mit dem „Dollarfeudalismus“ nicht aus dem Weg und praktizierte das Motto: „Rede sanft und führe einen großen Stock bei Dir“. Er verbiss sich nicht in einen Ansatz und riskierte auch ein Scheitern, wie es ihm beim „Fairness-Abkommen“ zwischen Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften unterlief. Er war ein undogmatischer und flexibel handelnder Visionär, der rücksichtslosen Durchsetzungswillen zeigte. Er führte geistig und praktisch und wurde die Antithese zur Politik als Nichtpolitik – und startete ausgerechnet im wirtschaftsliberal imprägnierten Amerika gegen erbitterte Widerstände und mit wachsender Zustimmung ein staatsinterventionistisches Programm von hoher Originalität. Dies macht heute seine bedenkens- und nachahmenswerte Modernität aus.

Diese besteht nicht zuletzt darin, dass er die Umsetzung seiner Ziele nicht der Routine des eingespielten Regierungsapparats überließ, sondern jeweils projektbezogene Regierungsagenturen gründete und mit umfangreichen Kompetenzen ausstattete. Er verband somit konkrete Wirtschaftsziele mit der Wiederherstellung der operativen Handlungsfähigkeit staatlicher Institutionen – und konnte damit das allen Regierungsbürokratien eigene „business-as-usual“ durchbrechen. Er redete nicht vom Ruck, sondern organisierte ihn. Durch seine mit seinen Reden korrespondierende Praxis konnte er das verlorengegangene Vertrauen in die Institutionen der Demokratie zurück gewinnen. Seine administrative Kreativität und Umsetzungskompetenz machte ihn zum Staatsreformer.

Diese Dimension politischen Handelns ist es, die seinen politischen Ruf begründete, und die als politische Handlungsanforderung fast vergessen ist: staatliche Kreativität und unbürokratische Handlungsflexibilität zu entwickeln. Nicht nur Ziele zu verkünden und sich auf Gesetze zu beschränken, sondern die administrativen Voraussetzungen für ihre Umsetzung zu schaffen. Randständige bürokratische Apparate aufzulösen und neue Institutionen auf Zeit einzurichten. Nicht nur Haushalte pauschal oder dort zu kürzen, wo die Widerstände am geringsten scheinen, sondern mit vorhandenen Mitteln neue strategische Schwerpunkte zu setzen. Nicht Regierung zu spielen, sondern tatsächlich gestaltungsfreudig zu regieren und die Produktivität der politischen Institutionen entscheidend zu erhöhen.

Zu den Institutionen, die Roosevelt aus der Taufe hob, gehörte das Civilian Conservation Corps, in dem 500.000 arbeitslose Jugendliche für Aufforstungs- und Flußregulierungsarbeiten eingesetzt wurden, in Verbindung mit Bildungsprogrammen, um sie für ihren weiteren Lebensweg zu ertüchtigen: Eine Anregung, wie öffentliche Arbeiten organisiert werden könnten, die zugleich einen gesellschaftlich notwendigen Umweltbezug haben. In die gleiche Richtung zielte die Public Work Administration, die zwischen 1935 und 1941 mehr als zwei Millionen Menschen beschäftigte – ein Programm der Finanzierung von öffentlicher Arbeit statt von Arbeitslosigkeit - ohne den umständlichen, und kostspieligen Weg der Kombilöhne zu gehen, der hierzulande gerade als Rezeptur angeboten wird, obwohl der Wirkungsgrad nicht besonders hoch veranschlagt werden kann. So entstanden Schulen, Bibliotheken, Brücken, die sonst nie gebaut worden wären. Die aktualisierte Anlehnung daran wäre ein Programm in Regionen, wo die Arbeitslosigkeit schon alternativ- und hoffnungslose Ausmaße erreicht hat und es gleichzeitig einen großen Erneuerungs- und Nachholbedarf an baulichen Infrastrukturmaßnahmen gibt.

Mit der Resettlement Administration förderte Roosevelt den extensiven Landbau und motivierte städtische Arbeitslose, ihre Perspektive in landwirtschaftlicher Arbeit zu suchen. Auf heutige Probleme und Aufgaben übertragen, könnte dies eine Anregung dafür sein, unserer Landwirtschaft – in Verbindung mit einer gleichzeitigen generellen Steuerbefreiung für Treibstoffe aus Bio-Energie und Investitionsanreizen – ein neues Standbein mit einer wachsenden Zahl neuer Arbeitsplätze für die Produktion alternativer Kraftstoffe wie Bio-Ethanol oder Pflanzenöl zu verschaffen, um damit die Abhängigkeit von sich erschöpfenden Erdöleinfuhren zu überwinden. Es könnte eine Initiative mit großer Umwelt- und Beschäftigungswirkung sein – ein Muster besonders für Ostdeutschland, wo die Menschen in Scharen abwandern, weil sie keine neue wirtschaftliche Existenzbasis mehr entstehen sehen. Damit könnte gleichzeitig indirekt angeknüpft werden an das, was die Tennessee Valley Authority für Roosevelt darstellte:, ein mehrere Staaten umfassendes regionales Wirtschaftsprogramm, deren wirtschaftlicher Kern der Bau von großen Wasserkraftwerken wurde – so wie es heute ein Zeitalter der industriellen Mobilisierung und Einführung ökologischer Energietechniken sein könnte.

Schritte in diese Richtung wurden von der rot/grünen Bundesregierung zwar eingeleitet, werden aber wegen der Widerstände konventioneller Energieinteressen eher halbherzig verfolgt – und selbst schon eingeleitete Initiativen werden eher leise als lautstark präsentiert. Ein „Roosevelt’scher Politikstil“ würde die ökologische Energiewende zur nationalen Zukunftsmission erklären – und eine breit und dauerhaft angelegte Regierungskampagne durchführen. Nicht eine kleine und mit wenig Kompetenzen ausgestattete Energieagentur würde gegründet, sondern eine mit Durchsetzungskraft.

Roosevelt demonstrierte, dass sich politische Institutionen revitalisieren lassen, wenn sie dahin geführt und darauf aus- und abgerichtet werden. Wo konkurrierende Zuständigkeiten die Entwicklung blockierten und sich gegenseitig verstrickten, ordnete er sie neu. Er praktizierte Politik als vielseitige Handlungskunst, indem er moralische Gesellschaftswerte, habhafte Ziele, öffentliche Überzeugungskunst und Umsetzungskraft orchestrierte – mit wenig Angst vor Fehlern, und durchaus mit opportunistischer Wendigkeit, ohne dabei zielvergessen zu werden. Roosevelt redete nicht von der Renaissance der Politik, sondern betrieb sie. Er steht für die Möglichkeit, ausgetretene Pfade des Politikbetriebs zu verlassen und in undelegierbarer Eigenverantwortung Neuland zu betreten, selbst wenn es den eingespielten professionellen Bedenkenträgern - den Experten des Sachzwangs - mulmig wird. Angesichts der ausweglos erscheinenden gesellschaftlichen Brüche, die schon eingetreten sind, und der noch größeren, die wir schon voraussehen oder zumindest ahnen, ist er ein Musterbeispiel, wie Politik allerorten anders und besser gemacht werden müßte und könnte. Vor allem programmatisch und politikunternehmerisch ambitionierter.