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Artikel erschienen in Frankfurter Rundschau, 15. November 2001

...für den Fortbestand der rot-grünen Koalition eine Gewissensfrage ist
Beitrag zur Vertrauensabstimmung im Deutschen Bundestag am 16.11.2001

„Sein Gewissen ist rein, er hat es nie benutzt“ – so lautet ein Aphorismus von Stanislaw Lec. Bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage sind zwei Gewissensfragen aufgeworfen, die bei einigen Abgeordneten miteinander in Konflikt stehen: zum einen jene über den Bundeswehreinsatz, zum anderen die über den Fortbestand der rot/grünen Koalition. Die zweite Frage steht der ersten in ihrer kategorialen Bedeutung in nichts nach.

Wer die rot/grüne Koalition ohnehin als Auslaufmodell betrachtet, wer keine substanziellen Unterschiede zwischen den Parteien mehr erkennt und diese beliebig austauschbar hält, für den haben Koalitionen nichts mit Gewissen zu tun, sondern mit machtpolitischen Interessen und Zwecken. So mögen auch nicht wenige Sozialdemokraten denken, die mit anderen Koalitionen liebäugeln – und diejenigen Grünen, die gelegentlich schon über die Perspektive schwarz/grüner Koalitionen spekulierten. Auch Gerhard Schröder hat die rot/grüne Koalition 1998 eher als Zweckbündnis bezeichnet. Dass sie tatsächlich auch in seinen Augen mehr ist, hat er ausgerechnet aus dem aktuellen Anlass seiner Vertrauensfrage am Dienstag vor den Fraktionen der SPD und der Grünen deutlicher denn je hervorgehoben – und wir sollten unterstellen, dass sein Plädoyer nicht taktisch gemeint war. Vielleicht ist ihm die Bedeutung der rot/grünen Koalition erst in der Stunde ihrer existenziellen Bedrohung selbst im vollen Umfange klar geworden.

Deren Start im Jahr 1998 erfolgte zwar – im Kontrast zu der grundsätzlichen Aufbruchstimmung, die 1969 die Bildung der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt begleitete – eher in pragmatischer Atmosphäre. In Wahrheit gingen Erwartungen und Hoffnungen in diese Koalition von Anfang an wesentlich über ihre konkreten Vorhaben hinaus. Mehr noch: die Gründe, die für diese Koalition sprechen, sind politisch sogar von noch höherem Gewicht als die für die einstige sozialliberale Koalition. Sie gehen auch weit über die Bedeutung des Bundeswehreinsatzes hinaus.

Die „fundamenta in re“ - die grundsätzlichen Dinge, um die es geht – sind: Wir brauchen dringend politische Entscheidungen für ein Jahrhundert der Umwelterhaltung, in Ablösung des Jahrhunderts der Umweltzerstörung. Wir müssen kämpfen für die Weitergeltung des menschenrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes, der durch das Wiederaufleben extremistischer ethnischer, nationalistischer und religiöser Selektionsbewegungen substanziell gefährdet ist – und auch durch das zusätzliche Massenarmut produzierende Dogma globaler Wirtschaftsfreiheit, das eine Art modernen Fundamentalismus darstellt.

Man kann die Unzulänglichkeiten und Widersprüche der politische Leistungen der rot/grünen Koalition kritisieren. Man mag ihr ankreiden, sie habe sich nicht ausreichend für eine ökologische Wirtschaftsperspektive und eine am Gleichheitsgedanken orientierende Politik eingesetzt. Man mag ihr Zaudern sogar für unerträglich halten. Aber die grundsätzliche Differenz zu denen, die erst gar keine neuen Antworten auf diese existenziellen Menschheitsfragen suchen oder diese sogar denunzieren, ist unübersehbar. Im Vergleich dazu ist der „Vorrat an Gemeinsamkeiten" von rot/grün, mit dem gemeinhin Koalitionsbildungen und –aufklärungen begründet werden, noch längst nicht erschöpft.

Dem Atomausstieg mit seinen schwer verdaulichen Kompromissen steht die erklärte Absicht von Union wie FDP gegenüber, die Atomkraft wieder zur Zukunftsoption zu machen. Der erheblich verbesserungsbedürftigen Ökosteuer steht die unverantwortliche Absicht gegenüber, sie fallenzulassen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, weltweit erfolgreichstes Beispiel und Vorbild für den schicksalhaft notwendigen Prozess der Ablösung atomar/fossiler durch Erneuerbare Energien, stößt auf strikte Ablehnung bei den Liberalen. Die aktuellen Versuche, Barrieren gegen den verhängnisvollen Weg einer Patentierung von Genen hin zu weltweiter Bio-Piraterie durch Gen-Konzerne aufzubauen, würden in einer Koalition der SPD mit der FDP scheitern. Ebenso die Ansätze, der schrankenlosen Liberalisierung des Welthandels ökologische und soziale Grenzen zu setzen. Schritte gegen internationale Geldspekulation, die Wiederherstellung einer politischen Balance gegenüber aus Rand und Band geratenen transnationalen Konzentrationsprozessen: hier mangelt es zwar den rot/grünen Koalitionsparteien an einer Strategie und dem Mut dazu, aber wenigstens verleugnen sie nicht das Problem und den Handlungsbedarf.

Die existenzielle Bedeutung dieser Entscheidungsfelder ist offenkundig, nicht nur für die politische Identität von SPD und Grünen, sondern für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt. An ihren Dimensionen muss der Stellenwert der Entscheidung gemessen werden, die die Abgeordneten der rot/grünen Koalition bei der Vertrauensabstimmung im Bundestag treffen müssen. Die rot/grüne Koalition ist vor dem Hintergrund der sich vielfach spaltenden Einen Welt ein historisches Bündnis – mehr als es vielen bewusst ist. Es ist eine überragende Gewissensfrage, sich für seinen Fortbestand zu entscheiden.