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(c) photocase.comArtikel erschienen in taz, die Tageszeitung, 10. Mai 2001 

Das wohl abfälligste Urteil über eine Theorie ist, dass es schade um die Wirklichkeit sei, wenn diese im Gegensatz dazu stehe. Selbst dieses Verdikt hindert einschlägige Theoretiker nicht daran, an ihrem Überbau festzuhalten und sich so jeder empirischen Widerlegung zu entziehen. Wenn dabei die Diskrepanz zur Realität unübersehbar geworden ist, wird nach neuen (schein)wissenschaftlichen Hilfsargumenten gesucht. So hat sich die Theorie der atomaren Abschreckung, zumindest bis zum Ausbruch eines Weltkrieges, unwiderlegbar gemacht. Und das Scheitern des Patentrechts als Stimulans für die medizinische Forschung in der Dritten Welt soll nun mit der Ausweitung des Patentrechts bekämpft werden.

Eine weitere moderne Unfehlbarkeitstheorie ist die Behauptung, das Abräumen aller Wirtschaftsschranken werde allen Erdenbürgern Wohlstand bringen. Dieser Verheißung steht ein in den letzten Jahrzehnten drastisch gewachsenes Gefälle zwischen Arm und Reich gegenüber. Doch stets lautet die Antwort der grenzenlosen Globalwirtschaftler: es sei eben nicht schnell und umfassend genug liberalisiert worden. In der Globalwirtschaft von heute wimmelt es vor Wirtschaftsexperten dieser Art, und selbst desaströse Beratungsergebnisse schmälern nicht ihre Reputation.

Wenn diese gar in "Harvard" lehren, gelten selbst ausgemachte intellektuelle Tiefflüge noch als überlegene Weisheiten. Zwar singen längst die Spatzen von allen Dächern, dass die von Harvard-Ökonomen empfohlene Radikalkur unverzüglicher Liberalisierung der russischen Wirtschaft - getreu dem neoliberalen Lehrbuch, das selbst in USA nie in Reinkultur umgesetzt wurde - nicht zu einer Transformation in eine Marktwirtschaft, sondern zu einer Raubtierwirtschaft führte. Doch unverdrossen wird den Entwicklungsländern gleiches empfohlen. Wenn es schief geht, waren sie stets selber schuld.

Pars pro toto steht dafür auch der Essay des Harvard-Entwicklungsökonomen Ricardo Hausmann, zuvor (offensichtlich nicht sehr erfolgreicher) Planungsminister von Venezuela, der in der "Foreign Policy" und in der ZEIT vom 26.4. veröffentlicht wurde. Darin geht er der Frage neu nach: Woher kommt die wachsende Ungleichheit der Welt? Warum war etwa Westeuropa im Jahr 1820 nur dreimal so reich wie Afrika und dieser Faktor bis Anfang der 90er Jahre auf 13 angestiegen - und warum verfügten die reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung 1960 über das 30fache des Einkommens der ärmsten 20 Prozent, aber mittlerweile über das 76fache? Sein Resümee: "Viele geben der Globalisierung der Wirtschaft die Schuld an Armut und Ungerechtigkeit in der Dritten Welt. In Wahrheit ist aber gerade das Fehlen - oder eine unzureichende Dosis - von Globalisierung für diese Ungleichheiten verantwortlich". Es müßten eben die "Grenzen für Menschen, Waren und Kapital durchlässiger" werden. Da dies jedoch bisher, wie empirisch zu sehen ist, nicht zu den verheißenden Resultaten führte, findet Hausmann ein schönes neues Hilfsargument: die Misere der Dritten Welt gründe in ihrem räumlichen Schicksal.

Kein Wort über die bis heute nachwirkenden Resultate und wirtschaftlichen Strukturen des Kolonialismus, die Rohstoffausbeutung zu immer niedrigeren Preisen, die soziologisch verheerende Implantierung zentralisierter Infrastrukturen und konzentrierter industrieller Wirtschaftsformen in weit überwiegend agrarischen Ländern. Das eigentliche Problem sei vielmehr, so Hausmann, dass viele Länder in der Dritten Welt zu "weit entfernt vom Meer" lägen und folglich unter Verkehrsbedingungen litten, die für den Welthandel ungeeignet seine. Da der Regionaltransport zu Lande siebenmal teurer sei als der auf dem Seeweg, müsse die Verkehrsinfrastruktur massiv entwickelt werden. Räumlich benachteiligt sei die tropische Welt überdies durch die Klimabedingungen: im eurasischen Raum wegen seiner relativ gleichwertigen Klimabedingungen hätten landwirtschaftliche Innovationen "weite Strecken" zurücklegen können, so sehr eine "große Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten" entstanden. Die tropischen Räume mit schnell wechselnden Klimazonen mußten dies durch eine Intensivierung agrartechnischer Forschung ausgleichen. Die Dritte Welt müsse "raus aus der Falle des Raumes".

Hatten aber die Schweiz oder Österreich schwerwiegende wirtschaftliche Entwicklungsnachteile, weil sie mehr als 100 km vom Meer liegen, was Hausmann zu Wachstumsnachteilen von 0,6 Prozent führt? Sind Hessen, Bayern und Baden-Württemberg gegenüber den Küstenländern strukturell entscheidend benachteiligt? Warum blühen die meerumschlungenen Inselstaaten Indonesien und Philippinen nicht ganz anders auf als etwa Indien, wo der Großteil der Wirtschaft endlos weite Transportwege zu Lande zu überwinden hat? Wenn schon die Transportkosten als Problem aufgeworfen werden, was nicht generell von der Hand zu weisen ist: Warum dann kein Wort über die steuerliche Diskriminierung des Landtransports, dessen Energiekosten in allen Ländern besteuert werden, während Flug- und Schiffstreibstoffe weltweit von Abgaben befreit sind? Die unmittelbare Folge ist die Privilegierung nicht nur des Flug- und Schiffstransports gegenüber dem Straßen- und Eisenbahntransport, sondern damit auch die des Globalhandels vor dem Regionalhandel. Faktisch bedeutet das eine Subventionierung des internationalen Handels in einer Größenordnung von jährlich etwa 300 Milliarden Dollar. Dies wird von allen Theoretikern der Globalisierung notorisch ignoriert, obwohl es allen Prinzipien der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsgleichheit widerspricht. Hochgradig ideologisch setzen sie die Unternehmensinteressen der Global Players prinzipiell mit den Interessen der Volkswirtschaften gleich.

Die Raumtheorie Hausmanns steigert sich zum Quatsch. Seine drei Paradebeispiele für ökonomischen Erfolg in den Tropen - Brunei, Hongkong, Singapur - verdanken dies doch wohl kaum ihrer Verkehrslage. Brunei verfügt vielmehr über Ölquellen und Hongkong und Singapur wurden aufgrund spezieller historischer Entwicklungen zu attraktiven ökonomischen Enklaven. Dabei handelt es sich um genau jene geographisch kleinen Länder, denen Hausmann ansonsten wenig Entwicklungschancen einräumt, u.a. weil sie sich gegenüber den Naturkatastrophen allein keinen kostspieligen Katastrophenschutz leisten könnten. Dass diese sich häufenden Naturkatastrophen ihre Hauptursache in der fossilen Energieorgie der Ersten Welt haben, bleibt - sonst paßt ja die neoliberale westliche Vorbildfunktion nicht mehr- selbstverständlich unerwähnt. Die Raumtheorie fällt schließlich ins Bodenlose, indem der Nordhälfte sogar die größere Vielfalt in der Landwirtschaft zugesprochen wird. Dabei dominieren dort moderne Monokulturen, und die tropische Hemisphäre verfügt generell über die unendlich reichere Biodiversität.

Zwar ist schon bis in den "Economist" nachzulesen, dass wirtschaftliches Wachstum allein keine Wohlstandsgarantie ist. Längst ist ermittelt, dass die Global Players in der Dritten Welt zwar große Unternehmensgewinne einfahren, aber die dortigen Volkswirtschaften davon immer geringer weniger haben. Nicht einmal die Globalisierung des Agrarhandels nützt den Ländern der Dritten Welt - sondern führt nur dazu, dass dadurch auf unsere Agrarkonzerne zugeschnittene Erzeugerstrukturen entstehen - mit der wahrscheinlichen Folge, dass in den nächsten 20 Jahren wahrscheinlich mehr als eine Milliarde Kleinbauern mit ihren Familien ihre wirtschaftliche Existenz verlieren und den Weg in die Slums von Kalkutta bis Mexiko City antreten. Immer deutlicher wird sichtbar, dass Kleinkredite für in lokalen und regionalen Märkten operierende Kleinbetriebe und die Belebung entsprechender wirtschaftlicher Kreisläufe die Entwicklungskatastrophe in der Dritten Welt vielleicht abwenden können, keinesfalls aber der schnelle Sprung in unser Wachstumsmodell, in das die Industrieländer in mehr als 100 Jahren hineinwuchsen.

All diese Erkenntnisse werden von der neoliberalen Globalisierungsökonomie wie einst in den 50er und 60er Jahren verdrängt - ganz zu schweigen von den Erkenntnissen über die notwendige Revitalisierung regionaler Wirtschaftskreisläufe aus globalökologischen Gründen. Stattdessen sollen Rückfälle in die reaktionäre Gedankenwelt der Geopolitik der modernen Wirtschaftswissenschaft aus ihren Erklärungsnöten helfen. So ist es für Hausmann zwar nicht mehr der allzu sonnenverwöhnte faule Neger selbst, worunter die Produktivität leidet, sondern es sind die gemeinen Moskitos und Viren in der tropischen "Raumlage".

Das Weltbild, mit mikroökonomischer Orientierung die Makroprobleme der Weltwirtschaft zu wollen, ist brüchig geworden. Weil es nicht aufgeht, müssen nun Raum und Natur als Hindernisse herhalten, um das Globalisierungs-Credo zu retten - nach dem Motto: Nur derjenige befindet sich auf dem falschen Weg zu Wachstum und Wohlstand, wer dieses Manko nicht durch beschleunigtes raumübergreifendes Tempo ausgleicht. Doch die Dritte Welt ist nicht in der Falle ihres Raumes, sondern in der der neoliberalen Heilslehre. Diese steht schon so im fundamentalistischen Abseits, dass ihre Protagonisten nicht mehr hören, wie schrill die Realität als Schiedsrichter schon pfeift.